Zuerst steckten sie die Synagoge in Derbent in Brand, filmten es, gingen weiter zur orthodoxen Kirche, wo sie einen Wachmann erschossen und dem 66 Jahre alten Priester die Kehle durchschnitten. Zur gleichen Zeit schossen ihre mutmaßlichen Komplizen einen Verkehrspolizisten in der Stadt Machatschkala nieder. In den darauffolgenden Gefechten erschossen sie 15 Polizisten, verwundeten zehn weitere, ehe sie von den russischen Sicherheitskräften erschossen oder festgenommen wurden.
Söhne eines Politikers
Im Gegensatz zu den Terroristen, die Ende März mehr als hundert Menschen in der Moskauer Konzerthalle Crocus ermordet hatten, stammen die Täter nicht aus dem Ausland, sondern aus der russischen Teilrepublik Dagestan. Zwei von ihnen sollen gar die Söhne des Bezirksleiters des Dorfes Sergokala, Magomed Omarow, sein. Ein Dritter dessen Neffe. Omarow wurde noch Sonntagabend festgenommen und verhört. Laut russischen Medienberichten hatten seine Söhne bereits vor einem Jahr einen Konflikt mit dem Mufti von Dagestan – sie wollten einen radikaleren Imam in ihrer Moschee einsetzen.
Die Omarows sollen Anhänger des Takfirismus sein – einer radikalislamischen Bewegung, die in Russland verboten ist und die sich gegen ...
... Christen und Juden sowie gegen diejenigen Muslime wendet, die ihrer Meinung nach mit „Ungläubigen“ konspiriert haben.
„Tafkir“ bedeutet grob übersetzt „für ungläubig erklären“, Dschihadisten benützen den Begriff zeitweise, um Morde an Muslimen zu rechtfertigen. Mit dem Aufstieg der Terrormiliz „Islamischer Staat“ machten sich nicht wenige Tafkiristen auf, sich der Organisation anzuschließen. Aus Österreich etwa der Attentäter von Wien, der ebenfalls dem Tafkirismus zugerechnet wird, mindestens 2.400 aus Russland - und davon 600 aus Dagestan.
Die Teilrepublik war vor allem bis 2017 ein massiver Unruheherd mit jährlich Hunderten Toten. Nach und nach versuchte die russische Regierung, mehr auf die Förderung der jüngeren Generation von Dagestan zu setzen - eine Praxis, die durchaus zu funktionieren schien. Bis Sonntag.
„IS ist aktiv“
Der Islam ist seit Jahrhunderten Bestandteil Russlands, doch seit Ende der Sowjetunion mischen sich immer mehr radikale Strömungen in die Großteils religiös gemäßigte Gesellschaft, die stetig wächst. „Es gibt ein großes Problem mit dem islamischen Extremismus in Russland, der sich ausbreitet“, sagte Sergej Markow, ein politischer Berater, der dem Kreml nahesteht, gegenüber Bloomberg. „Der Islamische Staat und andere Gruppen sind aktiv.“ Dass die Söhne des Bezirksvorstehers Omarow zu den Terroristen gehörten, „zeigt, dass der radikale Islam tief in die Gesellschaft eingedrungen ist und die Elite durchdrungen hat“, so Markov.
Etwa 20 Millionen der 144 Millionen Russen sollen muslimischen Glaubens sein – geht es nach dem russischen Obermufti Ravil Gainutdin, soll bis 2030 ein Drittel der Russen muslimisch sein. Auch wenn das nicht unbedingt wahrscheinlich ist, geht die demographische Entwicklung in diese Richtung: Während im Zeitraum zwischen 2010 und 2020 die Zahl der ethnischen Russen um 4,9 Prozent abnahm, stieg die überwiegend muslimische tschetschenische Bevölkerung um 17,1 Prozent.
Eine Tatsache, der auch der russische Präsident Wladimir Putin Rechnung trägt und den Islam regelmäßig als die „traditionelle Religion unseres Landes“ bezeichnet. Doch in der russischen Bevölkerung tun sich seit Längerem Gräben auf: Nationalisten beklagen eine zu tolerante Herangehensweise gegenüber dem Islam und der islamischen Migration aus Zentralasien.
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