Coronavirus: Warum Osteuropa verschont bleibt - und trotzdem leidet
In Ungarn tritt offiziell der erste Fall von Coronavirus am 4. März auf. Mehr als eine Woche nach Bekanntwerden der ersten Infektionen in Österreich am 25. Februar. Viktor Orbán lässt ab 11. März den Notstand regieren. Am 15. März der erste Todesfall durch das Virus, da ist Österreich schon zu großen Teilen zum Zuhausebleiben angehalten.
Ungarn zieht einen Tag später nach, sagt alle Veranstaltungen ab und macht die Grenzen weitgehend dicht. Ähnlich wie andere Staaten aus der Region (wie Polen, Tschechien, die Slowakei, Rumänien), die ungefähr zur selben Zeit mit dem Coronavirus in Kontakt kommen.
In Ungarn sind bisher 383 Menschen an den Folgen einer Coronavirus-Infektion gestorben, in Tschechien 263, in der Slowakei laut offiziellen Zahlen 26.
Während der Westen händeringend und nur langsam die ersten Schritte aus der Gesundheitskrise macht, scheint im Osten Europas die Krankheit glimpflich verlaufen zu sein. Eine vorsichtige Suche nach Gründen:
Weniger Tests
Die naheliegendste Annahme ist, dass in diesen Ländern weniger Tests durchgeführt werden. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, doch selbst unter Berücksichtigung von Unsicherheiten beim Vergleich der Zahlen wirkt es, als ob Osteuropa weniger betroffen ist.
Weniger Alte
Eine Vermutung, die im britischen Guardian aufgestellt wird, ist die niedrigere Lebenserwartung. Die Gesundheitssysteme in vielen Mittel- und Osteuropäischen Ländern haben es mit einer geringeren Anzahl an Alten und Schwachen zu tun – die vom Coronavirus besonders betroffen wären.
Weniger Kontakte zu China
Die Flughäfen in Prag, Warschau oder Budapest sind nicht so sehr international vernetzt wie Paris, London, Berlin oder auch Wien.
Italien soll zudem vor allem deshalb so eine hohe Zahl an Infektionen am Ende des Winters gehabt haben, weil dort so viele chinesische Arbeiter tätig sind, die teils zum chinesischen Neujahr in ihre Heimat gereist sind. Diese Kontakte sollen die Länder in Osteuropa nicht haben, heißt es im Guardian. Doch am Balkan gibt es viele Kooperationen mit chinesischen Firmen beim Bau von Autobahnen oder Kraftwerken, mit der Teilnahme von Hunderten Arbeitern aus China, teils in eigenen Dörfern.
Mehr Masken
Die Maskenpflicht wurde in vielen Ländern Osteuropas verhältnismäßig früh eingeführt. Die slowakische Regierung wurde am 21. März angelobt – alle Beteiligten trugen Masken.
Nach Tschechien waren die Slowaken die zweiten in Europa, die das Maskentragen verordnet haben. Der „Erfolg“ scheint ihnen recht zu geben. Das tschechische Gesundheitsministerium hat auch über die Grenzen hinaus für den Nasen-Mund-Schutz geworben.
Späte Fälle, frühe Reaktion
Doch wie bereits oben erwähnt könnten auch Glück und Disziplin dafür verantwortlich sein, dass der europäische Osten nicht so stark in die Krise geschlittert ist. Das späte Auftreten der ersten Infektionen ließ schnellere Reaktion zu. Schließlich wurden die Informationen von Tag zu Tag mehr und man konnte sich besser auf die Gefahr einstellen, während etwa Italien schon mitten in der Krise war, Ausgangsbeschränkungen dort erst knapp zwei Wochen nach dem ersten bekannten Fall eingeführt wurden.
In Wahrheit machten die meisten Regierungen aus der Not eine Tugend. Die Gesundheitssysteme in manchen osteuropäischen Staaten sind für eine derartige Krise nicht einmal im Ansatz gewappnet. Auch deshalb musste man besonders schnell reagieren, um es nicht darauf ankommen zu lassen.
Ungarn ließ hierfür in einer höchst umstrittenen Aktion etwa zu Ostern Tausende Krankenhausbetten schwerkranker Patienten räumen, um gegebenenfalls Platz für Corona-Kranke zu haben.
Keine Wahl
„Länder wie Schweden oder Großbritannien können es sich viel eher leisten, eine Reihe von Maßnahmen abzuwägen“, zitiert der Guardian den Politikwissenschaftler Ben Stanley in Warschau. Doch Länder wie Polen hätten diese Möglichkeit gar nicht. Das Risiko einer Überlastung des Gesundheitssystems sei viel zu groß. Auch deshalb, weil Tausende Ärzte und Krankenpfleger nicht in ihren Heimatländern, sondern in westlicheren EU-Staaten arbeiten.
Das bekräftigte auch Osteuropa-Forscher Ivan Krastev, der davon ausgeht, dass die Bevölkerungen vor allem deshalb so diszipliniert waren, weil sie selbst wissen, wie verletzlich ihre Gesundheitsversorgung sei: „Man vertraut dem System nicht.“
Verschont und doch betroffen
Zwar blieb daher bisher eine Überlastung der Krankenhäuser in den osteuropäischen EU-Staaten aus, doch die strengen Ausgangsbeschränkungen lassen bereits jetzt ihre Kosten für die Wirtschaft erahnen. Vor allem deshalb, weil die Volkswirtschaften im Osten extrem exportorientiert sind.
Die Prognose des Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) für die Mittel- und Osteuropäischen Länder sieht nicht besonders rosig aus.
Die Kosten des Lockdowns sind enorm: 400 Millionen Euro wöchentlich sollen es in Ungarn sein. Vor allem deshalb hoffen und drängen Wirtschaftstreibende in diesen Ländern auf baldige Öffnung – was aber natürlich für die Gesundheitssysteme verheerend werden könnte.
Enorm unter der Krise leiden hier vor allem die Westbalkan-Staaten. Vor allem jene, die von Handel und Tourismus abhängen. Die werden sich vermutlich aber auch schneller erholen, heißt es beim wiiw.
Während es für Nicht-EU-Staaten auch nach der Coronakrise aufgrund der teureren Schulden schwierig wird, können sich zumindest die EU-Staaten in der Region etwas schneller erholen.
Politisch gesehen erwartet das Institut, dass der Staat mehr in die Wirtschaft eingreifen werde und China – wie bereits oben erwähnt – bei Infrastruktur- und Energieprojekten weiter eine wichtige Rolle spielen wird.
Eine Chance könnte für die Osteuropäer aber in der Krise auch herausschauen: Durch eine mögliche De-Globalisierung könnten Dienstleistungen und Digitalisierung aus den EU-Staaten in der näheren Zukunft verstärkt nach Südosteuropa ausgelagert werden. Experten erwarten mehr Investitionen in dieser Region.
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