Corona-Schatten über dem Sommerfest in Schweden
„Midsommar“ ist für manche Schweden das wichtigste Fest im Jahr, wichtiger als Weihnachten. Familien und Freunde kommen zusammen und feiern zur Sonnwendzeit feucht-fröhlich und ausgelassen: den Sommer, das Licht, das Leben. Doch heuer liegt ein Schatten darüber. Wegen der Corona-Pandemie wurden alle offiziellen Veranstaltungen mit Tanz, Speis und Trank abgesagt. 56.043 Infizierte und 5.053 Corona-Tote zählte das Zehn-Millionen-Land bis Freitag. Pro eine Million Einwohner gerechnet, starben in Schweden fünf Mal so viele Menschen wie in Österreich an Covid-19.
„In den Zeitungen gibt es Seiten über Seiten Todesanzeigen“, sagt Bo Löfvendahl, „früher habe ich sie nie wirklich beachtet, jetzt lese ich sie jeden Tag. Ist wieder jemand gestorben, den ich kenne?“ Der 68-jährige Journalist in Stockholm betrauert Freunde und auch viel jüngere Kollegen. Ausgelassen feiern, das wird an diesem Wochenende wohl nur die Jugend, glaubt er. Er selbst begeht Midsommar so verhalten wie noch nie in seinem Leben: „Im Freien und zu viert – drei Erwachsene, ein Kind. Dabei ist das Wetter so warm und wunderbar wie selten. Aber es gebietet einfach die Vernunft.“
Vernunft und Eigenverantwortung („eget ansvar“), das sind die Schlüsselbegriffe in Schwedens Corona-Strategie. Jetzt wurde für einen „Minisommar“ geworben, man solle im kleinsten Kreis Midsommar feiern und den Verstand nicht ausschalten.
„Strenger als Österreich“
Ansammlungen von mehr als 50 Personen sind immer verboten, „da sind wir strenger als Österreich jetzt“, sagt die schwedische Gesandte in Wien, Helena Zimmerdahl. Ihr Land setze nur auf wenige Verbote, aber es gelte eine Reihe von Empfehlungen, „die von den Schweden auch ernst genommen werden“, unterstreicht die Schwedin. Dazu zählen Hygiene- und Abstandsregeln, Teleworking oder, so möglich, der Verzicht auf öffentliche Verkehrsmittel. In Zügen durch Schweden gilt Reservierungspflicht, weil Plätze frei bleiben.
„Leben nicht wie zuvor“
„Bei uns herrscht ein großes Maß an Bewusstsein über die Gefahren und die nötige Disziplin.“ Das Bild im Ausland, wonach die Schweden so täten, als wäre nichts, sei falsch, betont Zimmerdahl gegenüber dem KURIER: „Unser Leben ist nicht mehr das Leben vor dem Ausbruch.“
Was also macht den Sonderweg Schwedens aus, von dem immer die Rede ist, und der von manchen beklatscht, von manchen verteufelt wird? Es gab keinen Lockdown, alle Geschäfte, Restaurants, Cafés und Bars blieben durchgehend geöffnet. Doch durch die wirtschaftliche Verflechtung liegt auch Schwedens Wirtschaft am Boden.
Die Kinder durften wie immer in den Kindergarten, die Volksschule oder Mittelschule gehen. Die Mühsal der Eltern, neben Homeoffice die Kinder zu unterrichten und isoliert von den Freunden bei Laune zu halten, blieb den Schweden erspart. Nur die Oberstufenschüler und Studenten mussten zu Hause lernen.
Entscheidung für Kinder
„Wir bedauern diese Entscheidung zugunsten der Kinder nicht“, sagt Zimmerdahl. „Bis jetzt haben wir keine Hinweise darauf, dass es dadurch signifikant mehr Infizierte gegeben hätte.“ Sie gehe davon aus, dass es Studien dazu gebe oder geben werde. Es wisse niemand, welcher „der richtige Weg“ durch die Corona-Krise sei und wie lange diese dauere. Schweden habe Maßnahmen für einen „Marathon“ ergriffen.
Die Entscheidungsfreiheit endet aber an den Toren zu Alters- und Pflegeheimen. Es gilt striktes Besuchsverbot. Als oberste Priorität hatte die linke Regierung den Schutz der Alten und Schwachen genannt – das ist bitter gescheitert. 4.485 der 5.053 Todesopfer waren älter als 70.
Viele wurden Opfer struktureller Probleme. Eine Systemänderung vor 30 Jahren sollte den Älteren dienen, indem die Verantwortung für die Alters- und Pflegeheime und die Pflege zu Hause an die Gemeinden überging. Diese können Steuern einnehmen, „aber es reicht nicht. Sie verarmen zunehmend“, erklärt Veronika Bard, Schwedens frühere OSZE-Botschafterin in Wien, heute bei der UNO in Genf. Also sparen die Gemeinden beim Personal, das, mangelhaft ausgebildet und schlecht bezahlt, in der Altenhilfe eingesetzt wird.
Statt einer Verbesserung spart der Wohlfahrtsstaat auf Kosten der Alten. Oft haben die Hilfskräfte keine volle Krankenversicherung: „Was tut jemand in dieser Lage? Arbeiten gehen, auch wenn er nicht ganz gesund ist.“ Dazu kam zu Beginn der Pandemie der eklatante Mangel an Schutzkleidung.
Kein Schutz für Alte
Bards Mutter wurde Opfer des Systems. Die 97-Jährige lebte zu Hause, wurde von einer Krankenschwester und mehrmals am Tag von Pflegehelfern der Gemeinde besucht. Letztere halfen beim Waschen, Putzen und schauten, dass die Dame aß. „Sie haben aber keine Schutzmaßnahmen ergriffen, keine Masken, kein Visier, keine Handschuhe. Nichts. So haben sie sogar meine Mutter geduscht.“ Einer aus dem Team steckte die alte Dame an. Dass sie noch ins Spital gebracht wurde, sei der „Barmherzigkeit“ eines Menschen zu verdanken – und einer einfühlsamen Spitalsärztin, dass ihre Tochter bei ihr war, als sie starb.
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