Corona-Maßnahmen: Schäuble stößt Debatte um Verhältnismäßigkeit an
Absperrbänder um Spielplätze, geschlossene Kindergärten, verwaiste Lokale, Polizeieinheiten, die in Parks patrouillieren und seit gestern eine bundesweite Maskenpflicht – alles Maßnahmen, um Corona zu bekämpfen, Menschenleben zu schützen, das Gesundheitssystem zu entlasten.
Eine Herausforderung, die Deutschland bisher gut im Griff hat, erste Lockerungen für Geschäfte wurden daher eingeleitet, in einigen Bundesländern gehen ältere Jahrgänge wieder zur Schule. Während das manchen nicht weit genug geht, die Rufe nach Normalität lauter werden, plädieren andere für kleine Schritte, etwa Kanzlerin Angela Merkel, – mit Blick auf eine mögliche zweite Welle und die Folgen für Risikopatienten, Personen mit Vorerkrankungen und ältere Menschen.
In der Debatte um das weitere Fortkommen und die Folgen der Maßnahmen bezog nun Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) Position. Wenn er „höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig“, sagte der 77-Jährige in einem Interview mit dem Tagesspiegel. Und: „Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“
Von Parteikollegen wie Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, gab es dafür Zustimmung, ebenso aus den Reihen von Grünen und FDP. CSU-Chef Markus Söder sprach von einem „wichtigen Meinungsbeitrag, wie so viele in diesen Tagen, und die fließen in jede Abwägung natürlich mit ein“. Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, wies gestern nur auf Schäubles herausgehobene Rolle hin, seine Aussage wollte er nicht kommentieren.
Was aber heißt das aus ethischer Sicht? Für Judith Simon, Mitglied des Deutschen Ethikrates, die an der Uni Hamburg im Arbeitsbereich Ethik in der Informationstechnologie lehrt, ist Schäubles Aussage sachlich richtig. Dennoch stelle sich die Frage: Was hört man da mit? „Im Normalfall schließt die Würde des Menschen das Vorhandensein von Existenz und Leben ein. Da gibt es Ausnahmen, aber im Grunde spricht man ja über ein ,würdevolles Leben’ und spielt die Begriffe nicht gegeneinander aus.“
Ein Problem ist zudem aus ihrer Sicht, dass Leben und Existenz vermeintlich eindeutige Kriterien sind – während sich eine Gesellschaft über den komplexeren Begriff der Würde und dessen Inhalt immer wieder neu verständigen und klar werden muss.
Besuch im Pflegeheim: Schützen oder zulassen?
Auch von jenen, die von den Lockerungen existenziell betroffen sind, etwa ältere Menschen. Sofern sie in Alters- oder Pflegeheimen sind, herrscht dort fast in allen Bundesländern ein Besuchsverbot.
Judith Simon geht davon aus, dass es hier unter den Bewohnern unterschiedliche Wahrnehmungen gibt. „Da ist etwa der eine, der für sich unter Abschätzung des Risikos sagt: Ich würde lieber die Familie sehen oder bei ihr sein als alleine zu sterben.“ Gleichzeitig gibt es aber jene, die Angst vor einer Ansteckung haben – „und nicht gerne hören, dass ihr Leben nicht absolut geschützt werden muss“. Wenn für alle die gleichen Besuchsverbote herrschen, kommt es hier also zu Problemen. Bei einer Öffnung gefährde aber vielleicht der, welcher nun Verwandte empfängt, nicht nur sich, sondern potenziell auch andere. Es seien verschiedene Interessen, die bei Debatten um Öffnungen miteinander abgewogen werden müssten.
Die verletzlichsten im Fokus haben
Aus Sicht der Ethikerin sollte immer – bei aller Unsicherheit und schnellen Entscheidungsprozessen – nach denen geschaut werden, die am „vulnerabelsten“ sind. Und dazu gehörten auch Kinder: „Bevor man überlegt, ob man die Shoppingcenter bis 600 oder 800 Quadratmeter öffnet, hätte man darüber nachdenken sollen, ob und in welcher Form man Kindergärten und Schulen schrittweise öffnet, vor allem für jene, die erhöhten Bedarf haben, etwa Alleinerzieherinnen.“ Man müsse neben wirtschaftlichen Faktoren mitberücksichtigen, welche sozialen und psychischen Folgen es habe, wenn Kinder mit Eltern dauerhaft auf engem Raum zusammen seien oder ihre Freunde nicht sehen könnten.
Über die Maßnahmen wollen Kanzlerin und Länderchefs am Donnerstag wieder beraten, vermutlich auch über deren richtiges Maß.
Kommentare