Es war ein vergleichsweise unspektakulärer Termin, und doch wird er regelmäßig hervorgekehrt. Am 25. Juni 2023 empfing der damals noch relativ frische chinesische Außenminister Qin Gang den stellvertretenden russischen Außenminister Andrej Rudenko, ein Foto zeigt die beiden vor einem Regierungsgebäude in Peking. Es sollte Qin Gangs letzter öffentlicher Auftritt sein.
Seit genau einem Jahr ist Qin Gang nun schon verschwunden, ohne dass es je eine offizielle Erklärung dafür gegeben hätte. Zunächst hatte ein Ministeriumssprecher "gesundheitliche Gründe" für Qins Abwesenheit angeführt, was aber sofort wieder vom restlichen Pressestab einkassiert wurde.
Vier Wochen später wurde endgültig klar, dass etwas Gröberes vorgefallen sein musste: Nach nur einem halben Jahr im Amt stimmte die Führung der kommunistischen Partei dafür, Qin Gang "von seinem Posten zu entfernen". Als Nachfolger präsentierte man seinen Vorgänger Wang Yi, der schon von 2012 bis 2022 chinesischer Außenminister war.
Das größte Mysterium: Eigentlich galt Qin Gang als Schützling des nahezu allmächtigen Staats- und Parteichefs Xi Jinping und war zuvor kometenhaft aufgestiegen. Erst 2021 war er zum chinesischen Botschafter in Washington ernannt worden, keine zwei Jahre später folgte im Dezember 2023 die für viele Beobachter überraschende Ernennung zum Außenminister.
Erst allmählich lässt sich anhand einiger Indizien ein grobes Bild davon zusammensetzen, was dem 58-Jährigen zum Verhängnis wurde. Es ist eine Geschichte wie aus einem Spionagethriller.
Uneheliches Kind mit Journalistin in den USA
In den Monaten nach seinem Verschwinden wurden alle Beiträge, die Qin Gang namentlich erwähnten, in Chinas sozialen Medien zensiert, während sich in Diplomatenkreisen zunehmend wildere Gerüchte verbreiteten. So soll der 58-Jährige je nach Quelle entweder Selbstmord begangen haben, zu Tode gefoltert oder via Giftspritze hingerichtet worden sein. Belege gibt es für keine dieser Theorien.
Als offenes Geheimnis gilt dagegen, dass der Diplomat eine langfristige Affäre mit einer bekannten Hongkonger Fernsehmoderatorin geführt haben soll. Fu Xiaotian, die für den chinesischen Staatssender Phoenix aus den USA berichtete, brachte im Frühjahr 2023 ein Kind zur Welt, äußerte sich aber niemals öffentlich darüber, wer der Vater ist.
Im April teilte die damals 40-Jährige dann einen vielsagenden Beitrag auf Twitter, der die Gerüchte zu bestätigen schien. Darauf war sie mit ihrem Baby in einem Privatjet zu sehen, der ihr Budget deutlich übersteigen dürfte, sowie ein Foto von einem Interview, dass sie mit Qin Gang führte.
Dazu schrieb Fu: "Das letzte Mal, als ich alleine mit diesem Flugzeug geflogen bin, war ich für einen Arbeitsbesuch in Washington. (...) Diesmal fliege ich gemeinsam mit meinem süßen, kleinen Sohn Er-kin." Von diesem Tag an fehlt auch von Fu Xiaotian jede Spur. In den sozialen Medien herrscht Funkstille, selbst ihre Arbeitgeber verweigern auf Nachfrage bis heute jede Auskunft.
Sechs Monate später, als die Welt schon lange über den Verbleib des Außenministers rätselte, legte die chinesische Anti-Korruptionsbehörde einen Untersuchungsbericht vor, der bestätigt, dass gegen Qin Gang wegen eines "Problem des Lebensstils" ermittelt werde. Aber reicht eine Affäre wirklich aus, um einen Günstling Xi Jinpings zu Fall zu bringen?
Affäre soll Informantin des britischen Auslandsgeheimdienstes gewesen sein
Hier wird es interessant. Denn der ehemalige US-amerikanische Geheimdienstmitarbeiter und Sinologe Dennis Wilder liefert eine mögliche Erklärung: "Ich bin überzeugt, dass Qin Gangs angebliche Geliebte Fu Xiaotian für einen ausländischen Geheimdienst gearbeitet hat", so Wilder, der auch die US-Regierung berät, gegenüber Politico. Britischen Medien zufolge soll Fu eine Informantin für den Auslandsgeheimdienst MI6 gewesen sein.
Dass die Kommunistische Partei noch immer keine offizielle Erklärung zu Qins Verbleib abgegeben hat, dürfte darauf hindeuten, dass er noch am Leben sei und "noch immer eine Chance haben könnte, zu beweisen, dass er zum Opfer einer Spionage-Operation wurde", so Wilder. Dass sein Status als Außenminister und sein gutes Verhältnis zu Machthaber Xi ihn dennoch nicht retten konnten, "sagt viel über das paranoide, autoritäre System in China aus."
Dem Präsidenten selbst scheint der Fall jedenfalls nicht geschadet zu haben: "Dass selbst ein Vertrauter von ihm mit aller Härte zur Rechenschaft gezogen wird, sorgt für eine Unsicherheit, eine Angst unter den Verantwortlichen, die Xi nützt", zitiert Politico Craig Singleton, einen weiteren China-Experten und Berater der US-Regierung.
"Wo auch immer Qin Gang jetzt ist", so Singleton, "man kann davon ausgehen, dass es keine chinesische Version eines Club Med ist."
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