Jens Spahn: CDU muss "Profil als bürgerliche Volkspartei schärfen"
Jens Spahn war diese Woche beim 30-Jahr-Jubiläum der Julius-Raab-Stiftung in Wien als Festredner geladen. Der KURIER traf ihn am Rande der Veranstaltung zum Interview.
KURIER: Haben Sie noch Kontakt zu Sebastian Kurz?
Jens Spahn: Ja.
Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar. Wo übrigens die meisten Teilnehmer noch drei Tage vor Kriegsbeginn der Meinung waren, dass Putin diesen Schritt nicht wagen würde …
Wie haben Sie denn als jemand, der mit Kurz auch persönlich gut war und ist, die Entwicklungen rund um die ÖVP und die Person Kurz wahrgenommen?
Für die ÖVP war das sicher – nach äußerst erfolgreichen Jahren – eine sehr schwierige Zeit. Meinem Eindruck nach hat sie sich aber wieder gefestigt, und sie wird sich auf dem Parteitag am 14. Mai in Graz in großer Einigkeit und mit klarer Führung präsentieren. Und bezüglich Sebastian Kurz ist seine Entscheidung, sich aus der Politik zurückzuziehen, einfach zu respektieren.
Glauben Sie, ist die politische Laufbahn von Kurz zu Ende?
Das zu beantworten, ist wirklich nicht an mir (lacht).
Auch die CDU hat keine leichte Zeit hinter sich. Nach 16 Jahren hat sie die Kanzlerschaft verloren. Ist das das Erbe der Angela Merkel, die die Union, wie Kritiker meinen, entkernt und orientierungslos zurückgelassen hat?
Wir hatten bei der Bundestagswahl 2021 das schlechteste Ergebnis unserer Geschichte. Das hat mir körperlich wehgetan. Es war zum Teil auch ein unnötiges Ergebnis: mit etwas mehr Einheitlichkeit und weniger Streit hätten wir schon mehr erreichen können. Dazu kommt: Wir haben in Wahrheit in den letzten drei, vier Jahren kaum noch programmatische Arbeit gemacht; wir haben seit Angela Merkels Entscheidung, nicht noch einmal anzutreten – das war 2018! – im Prinzip dauerhaft Führungsfragen diskutiert. Und eine Partei ohne klare Führung, die sich nur damit beschäftigt, wer denn jetzt eigentlich der Chef ist, die führt nicht die notwendigen inhaltlichen Debatten. Deswegen ist es gut, dass wir jetzt mit Friedrich Merz eine klare Führung in Partei und Fraktion haben.
Sie haben sich selbst auch um den Parteivorsitz beworben; zuletzt haben Sie Armin Laschet unterstützt, der als Kanzlerkandidat gescheitert ist. Haben Sie aufs falsche Pferd gesetzt?
Die Idee, die hinter dieser Unterstützung stand, war ja, die Union zusammenzuhalten. Das war richtig. Man darf nicht vergessen, wie es um die CDU im Frühjahr 2020 stand – wir hatten da eine echt schwierige Zeit: AfD, Thüringen, viel Streit, es war nicht immer klar, ob der politische Gegner inner- oder außerhalb der Partei steht. Und dann kam die Pandemie, und wir konnten die notwendigen Entscheidungen nicht treffen. Heute kann ich sagen: Friedrich Merz und ich arbeiten gut und vertrauensvoll zusammen, und er ist dabei, die Unzufriedenheit und Zerrissenheit der Partei zu überwinden.
Ging es letztlich nicht um die Frage: Weiter wie Merkel – oder Kurskorrektur und Schärfung des liberalkonservativen Profils?
Die Pandemie – und jetzt auch dieser furchtbare Krieg – sind eine Zeitenwende. Das hätte für uns, nach 16 Regierungsjahren, die Chance bedeutet, neue Impulse zu geben: etwa die Abhängigkeit von China in Frage zu stellen, Humanität und Kontrolle bei der Migration zu verbinden, die Digitalisierung des Staates voranzutreiben. Also Fehler zu benennen, den Kurs in diesen Punkten zu ändern, aber ohne gleich mit 16 Jahren unionsgeführter Regierung zu brechen.
Merz hat sich ja ganz klar gegen Merkel positioniert. Wohin wird er die Partei führen?
Es ist ein Mythos, dass es Friedrich Merz vor allem um Abgrenzung von Angela Merkel geht. Er will unser Profil als bürgerliche Volkspartei schärfen. Dafür dürfen wir nicht nur Interessen einzelner Gruppierungen vertreten, sondern müssen Politik für die Breite der Bevölkerung machen. Adenauer hat gesagt: „Nehmen Sie die Menschen, wie sie sind, andere gibt es nicht!“ Der liberalkonservative Ansatz ist, dass eine liberale, freie, offene Gesellschaft einen starken, durchsetzungsfähigen Rechtsstaat zur Voraussetzung hat. Einen Rechtsstaat, der Freiheit nach innen und außen garantiert und absichert. Je offener wir sind, desto mehr braucht es ein einigendes Band der nationalen Einheit, einen weltoffenen Patriotismus. Aus diesen Überzeugungen müssen wir wieder konkrete Politik machen. Das ist der Prozess, in dem wir uns gerade befinden.
War es ein Fehler der Union, eine Zusammenarbeit mit der AfD von Anfang an auszuschließen?
Nein. Erstens finde ich, dass kein vermeintliches Versäumnis der CDU eine Entschuldigung dafür sein kann, dass sich die AfD dermaßen radikalisiert hat. Dieses Sich-gemein-Machen mit Antisemiten, Hetzern, Verschwörungsanhängern, das ist hochproblematisch – und das ist auch nicht bürgerlich. Was wir indes wieder tun müssen – das gilt aber nicht nur für die CDU, sondern für die Gesellschaft als Ganzes – ist, den Debattenraum zu weiten. Wenn 70 Prozent der Deutschen in Umfragen rund um die Bundestagswahl angeben, man dürfe nicht mehr alles sagen, was einen bewegt und was man denkt, dann haben wir ein Problem …
… genau da setzt sich die AfD ja drauf.
Richtig. Und diese Debatten dürfen wir nicht der AfD überlassen – ob das die Migration oder die Pandemie betrifft. Wir haben zweifellos Gesprächsfäden verloren, was ja seinerzeit auch dazu geführt hat, dass Menschen die Union verlassen und die AfD gegründet haben. Mit Alexander Gauland habe ich schon vor 20 Jahren in der Adenauer-Stiftung über Konservativismus diskutiert. Ich habe manchen Frust von ihm verstanden. Aber kein Frust rechtfertigt, mit Hetzern in einer Fraktion zu sitzen.
Halten Sie es für möglich, dass sich die AfD wieder „zivilisiert“, also gleichsam an ihre Anfänge anknüpft?
Was die Wähler der AfD betrifft, sollten wir immer zum Gespräch bereit sein. Eine politische Zusammenarbeit mit der Partei kann es nicht geben: EU- bzw. Euro-Austritt, Gegnerschaft zum transatlantischen Bündnis – das ist an so vielen Stellen schon rein inhaltlich unvereinbar, gar nicht zu reden vom Stil der Auseinandersetzung. Die AfD ist unumkehrbar auf einem Weg, der zu immer mehr Radikalisierung führt.
Braucht die Union eine selbstkritische Aufarbeitung der Ära Merkel?
Zunächst würde ich schon Wert darauf legen, dass es auch gute 16 Jahre für Deutschland waren, gerade wirtschaftlich …
… wobei da manche meinen, das sei zu einem guten Teil noch Gerhard Schröder und seiner Agenda 2010 zu verdanken …
Ja, das hat auch dazu beigetragen – umso unverständlicher, dass sich die SPD von diesem Erbe sehr flott wieder verabschiedet hat. Aber die Union hat das dann über 16 Jahre weitergeführt, Deutschland krisenfest gemacht, Wohlstand aufgebaut und gesichert. Dennoch gibt es Dinge, die man heute anders entscheiden würde: Einen gleichzeitigen Ausstieg aus Kohle- und Kernenergie beispielsweise würde man mit dem Wissen von heute nicht mehr so machen.
Welche Bedeutung hat das C im Parteinamen für Sie?
Es geht um ein Politikverständnis, das nicht von einem perfekten Ergebnis her denkt. Alle Ideologien – zum Teil auch der moralinsaure Ansatz der Grünen – haben die Vorstellung, das vermeintliche Paradies auf Erden zu schaffen. Die Idee zählt mehr als der Mensch – und der Mensch soll an die Idee angepasst werden: Wie schnell darfst du fahren, was darfst du essen? Wir Christdemokraten wissen hingegen, dass der Mensch nicht perfekt ist, der liebe Gott hat uns nicht perfekt gemacht. „Suchet der Stadt Bestes“ – dieses Bibelwort (Buch Jeremia 29,7; Anm.) beschreibt, worum es geht. Wir machen es nie perfekt, das bleibt einem Anderen vorbehalten. Das erzeugt eine gewisse Gelassenheit – nicht Gleichgültigkeit, der Unterschied ist wichtig! – in der politischen Debatte und im politischen Handeln; weniger Unerbittlichkeit und die Fähigkeit, sich an die Lage, an eine sich ändernde Welt anzupassen.
War es richtig, dass Friedrich Merz nach Kiew gefahren ist?
Ja, unbedingt. Er hatte ja schon vor Kriegsbeginn geplant, dort hinzufahren. Das war ein wichtiges Signal der Unterstützung der Ukraine, gerade aus deutscher Sicht. An der deutschen Entschlossenheit wird ja – gelegentlich aus guten Gründen – gezweifelt. Diese Entschlossenheit manifestiert sich in Entscheidungen, etwa was Waffenlieferungen angeht, aber auch in so einem Besuch vor Ort.
Sie haben in einem Interview die Ampelkoalition sehr scharf kritisiert. „Die Ampel steht auf gelb“, hieß es da – und da war nicht gemeint, dass die FDP dominiert …
Zunächst war ich beeindruckt von der Regierungsbildung: wie das gelaufen ist, ohne öffentlichen Streit. Da dachte ich: Wow, das könnte für uns als Opposition echt schwer werden, wenn die in diesem Geist weitermachen. Das hat dann aber nicht besonders lang gehalten – ob das die Impfpflicht-Debatte war, die Debatte zur Lieferung schwerer Waffen, zur Energiepreissenkung und zur Entlastung: wenig geliefert und umgesetzt, viel gestritten und angekündigt, das ist der bisherige Eindruck von der Ampel. Die sind nach fünf Monaten dort, wo wir nach vier Jahren Großer Koalition waren. Jeder in der Ampel muss seiner Klientel etwas bieten, aber dabei gerät schnell – etwa bei den Entlastungspaketen – das große Ganze aus dem Blick. Anerkennen muss man: Annalena Baerbock und Robert Habeck machen ihre Sache gut, auch in der Kommunikation. Dass aber der liberale Finanzminister mehr Schulden macht als alle seine Vorgänger, das hätte ich mir vor kurzem nicht träumen lassen.
Wie soll es in der EU weitergehen? Frankreich als ideeller Motor und Deutschland als Zahlmeister …?
Ich sehe drei Punkte. Erstens die Verteidigungs- und Sicherheitsunion: hin zu einer europäischen Einheitstruppe, gemeinsame Beschaffung, ein europäischer Sicherheitsrat, idealerweise gemeinsam mit Großbritannien. Zweitens eine Handels-NATO: Wenn wir von China weniger abhängig werden wollen, dann sollten wir mit den freien Demokratien mehr Handel betreiben. Und das Dritte ist eine Wirtschaftspolitik, die Weltklasse auf europäischer Ebene entstehen lässt – wir müssen ja mit chinesischen Staatskonzernen und amerikanischen Monopolisten mithalten können. Das sind Themen, wo die EU mehr tun könnte und sollte und wo auch Deutschland gemeinsam mit Frankreich Impulse setzen muss. Aber nicht nur mit Frankreich: etwa das Weimarer Dreieck mit Polen zu beleben, wäre sehr wichtig, gerade in der jetzigen Situation. Deutschland war immer ein Anwalt der kleineren Mitgliedstaaten – das hat eine lange Tradition seit Helmut Kohl. Dieses Einbeziehen der kleineren Länder findet zu wenig statt.
Was sagen Sie denn als Christdemokrat, wie man es mit den Regierungsparteien in Polen und Ungarn – zwei erfolgreiche konservative Parteien – halten soll?
Man muss auf jeden Fall im Gespräch bleiben: Polen leistet in der Ukraine-Krise extrem viel, es sind die gewählten Regierungen dieser Länder; und die EU ist ein Zusammenspiel von Nationalstaaten, auch wenn das manche in Brüssel nicht wahrhaben wollen. Das schließt eine klare Sprache und notwendige Maßnahmen nicht aus, wenn es darum geht, was nicht akzeptabel ist, was gegen die Verträge verstößt. Am wichtigsten für den Fortgang des europäischen Projektes ist am Ende aber: Wir müssen einen gemeinsamen Geist der europäischen Einigung finden und pflegen.
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