Streit um die Scheidung Großbritanniens von der EU

Mit Spannung erwarten nicht nur die Briten ein Urteil des höchsten Gerichts zur Scheidung ihres Landes von der Europäischen Union. Es geht um die Frage: Hat das Parlament trotz des Votums des Volkes noch ein Mitspracherecht beim geplanten Brexit?

Der Oberste Gerichtshof Großbritanniens entscheidet am Dienstag, ob das Parlament über den Austritt des Landes aus der Europäischen Union abstimmen muss. Sieht das Urteil eine Befassung des Parlaments mit dem Brexit vor, muss die konservative Premierministerin Theresa May einen Gesetzesentwurf vorlegen, in dem der Austritt gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags von Lissabon begründet wird.

ROLLE DES PARLAMENTS: Der Beginn der Verhandlungen mit der EU könnte sich dadurch verzögern. Die Regierung hat allerdings einen sehr kurzen Text angekündigt, wodurch etwaige Änderungsanträge und lange Debatten der Parlamentarier erschwert werden sollen.

Obwohl die meisten Parlamentarier einen Brexit ablehnen, dürften sie May kaum Steine in den Weg legen, um nicht den Zorn ihrer Landsleute auf sich zu ziehen, die am 23. Juni 2016 mehrheitlich dafür stimmten. Die Regierungschefin hat angekündigt, den fertig ausgehandelten Austrittsvertrag in jedem Fall beiden Kammern zur Abstimmung vorzulegen.

"HARTER" BREXIT: May strebt mit ihrer Regierung einen "harten" Brexit aus der Europäischen Union an. Mit dem Austritt aus der EU soll Großbritannien zugleich auch den europäischen Binnenmarkt und den Gerichtshof in Straßburg verlassen. Um Handelsabkommen mit anderen Ländern schließen zu können, will London eine neue Zollvereinbarung mit der EU erreichen (mehr dazu hier).

ZEITPLAN: Die Austrittsabsicht nach Artikel 50 des EU-Vertrags will May bis Ende März offiziell mitteilen. Danach besteht eine Zweijahresfrist zum Abschluss der Austrittsgespräche mit der EU. Der Brexit-Verhandlungsführer der EU-Kommission, Michel Barnier, hat sich dafür ausgesprochen, die Verhandlungen vor der Wahl zum Europäischen Parlament im Jahr 2019 zu beenden.

Dem ausgehandelten Abschlussvertrag müssten auf EU-Seite 27 Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit zustimmen. Nötig wären dafür mindestens 19 EU-Länder, die 65 Prozent der Bevölkerung vertreten. Das Europaparlament würde den Austrittsvertrag mit einfacher Mehrheit billigen. Sollte es in der vorgesehenen Frist nicht zu einem Austrittsvertrag kommen, erlischt Großbritanniens Mitgliedschaft.

ÜBERGANGSPHASE UND GESETZE: Die Premierministerin hat sich für eine "abgestufte Herangehensweise" beim Brexit ausgesprochen, um britische Unternehmen zwischen dem EU-Austritt und dem Greifen neuer Abkommen nicht in der Schwebe zu lassen. Sie hält Übergangsfristen in bestimmten Wirtschaftsbereichen für denkbar, was im gegenseitigen Interesse sei. Einen "unbegrenzten Übergangsstatus" will May aber vermeiden. Sämtliche EU-Gesetze, die in Großbritannien Anwendung finden, sollen in britisches Recht übertragen werden.

EINWANDERUNG: Die Begrenzung der Einwanderung, Hauptargument vieler Brexit-Befürworter, soll nach Mays Worten Priorität bei den Austrittsverhandlungen haben. Jedes Jahr zieht es hunderttausende Menschen auf die Insel, viele von ihnen kommen aus Ost- und Südeuropa. Die bisherigen Rechte von bereits in Großbritannien lebenden EU-Bürgern sollen May zufolge weiter gewahrt bleiben, wenn dies umgekehrt auch für die in EU-Staaten lebenden Briten gelte.

Am 23. Juni 2016 haben die Briten für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union gestimmt. Im Folgenden die wichtigsten Ereignisse rund um den Brexit im Überblick:

23. Jänner 2013: Der britische Premierminister David Cameron kündigt an, die Bürger seines Landes bis spätestens 2017 über den Verbleib in der EU abstimmen zu lassen.

28. November 2014: Cameron verknüpft die Frage des EU-Austritts mit Forderungen zur Migrationspolitik.

19. Februar 2016: Die Staats- und Regierungschefs aller EU-Staaten einigen sich auf ein Reformpaket. Zugewanderte Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern sollen zeitweise weniger Sozialleistungen bekommen.

9. Mai: Sechs Wochen vor dem Referendum warnt Cameron eindringlich vor Sicherheitsrisiken im Falle eines Austritts. Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson, einer der prominentesten Befürworter eines EU-Ausstiegs, macht Migration zu einem zentralen Wahlkampfthema.

23. Juni: Die Briten haben die Wahl: Rund 46,5 Millionen registrierte Wahlberechtigte können über den EU-Austritt mitentscheiden.

24. Juni: In den Morgenstunden wird klar: Großbritannien wird der EU den Rücken kehren. In Europa und Asien brechen die Aktienmärkte ein.

25. Juni: Aus Enttäuschung über das Votum nimmt der britische EU-Finanzkommissar Jonathan Hill seinen Hut.

4. Juli: Nigel Farage, der neben Johnson als wichtigster Brexit-Befürworter gilt, tritt vom Vorsitz der rechtspopulistischen Partei UKIP (UK Independence Party) zurück.

13. Juli: Premier Cameron tritt zurück. Seine Parteikollegin Theresa May wird seine Nachfolgerin. Der Brexit-Wortführer Johnson wird neuer britischer Außenminister.

15. Juli: Brexit-Minister David Davis kündigt an, erst zum Jahreswechsel offizielle Gespräche mit Brüssel über einen EU-Austritt aufnehmen zu wollen. Die EU dringt auf baldige Verhandlungen.

20. Juli: May trifft auf ihrer ersten Auslandsreise als Premierministerin in Berlin Bundeskanzlerin Angela Merkel.

25. Juli: Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon bringt erneut eine Unabhängigkeit ihres Landes ins Spiel. Die Mehrheit der Schotten hatte sich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen.

5. September: Brexit-Minister Davis hält einen Verbleib im europäischen Binnenmarkt nach einem EU-Austritt für unwahrscheinlich. Am Tag darauf distanziert sich Premierministerin May von der Äußerung.

2. Oktober: May sagt dem Sender BBC, sie werde bis Ende März 2017 offiziell den Austritt aus der EU einleiten.

3. November: Der Londoner High Court entscheidet, dass die Regierung für die Austrittsverhandlungen mit Brüssel die Zustimmung des Parlaments einholen muss. Die Regierung geht in Berufung.

3. Jänner 2017: Der britische EU-Botschafter Ivan Rogers tritt zurück. Er kritisiert Mangel an Verhandlungsgeschick in der Regierung.

14. Jänner 2017: Der Brexit-Ausschuss des Parlaments fordert von May bis Mitte Februar einen klaren Plan für die Verhandlungen mit der EU.

15. Jänner 2017: Der designierte US-Präsident Donald Trump sagt in einem Interview mit der Londoner "Times" und der deutschen "Bild"-Zeitung der Europäischen Union schwere Zeiten nach dem Brexit voraus.

17. Jänner 2017: May kündigt in einer Rede einen "harten Brexit" an. Großbritannien werde auch den europäischen Binnenmarkt verlassen.

ZERRÜTTETE BEZIEHUNG: Es sei "keine einvernehmliche Scheidung", hatte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker nach dem knappen Sieg der Brexit-Befürworter beim Referendum im vergangenen Juni gesagt. Aber es sei "auch nie ein enges Liebesverhältnis" gewesen. Großbritannien, so meinten viele auf der Insel, müsse zu viel an die EU zahlen und bekäme zu wenig aus der Gemeinschaftskasse heraus. Ob Engpässe im Gesundheitssystem, Wohnungsnot oder Wettbewerbsdruck auf dem Arbeitsmarkt - für viele Probleme wurden vor allem die EU-Einwanderer aus Osteuropa verantwortlich gemacht.

SCHMERZHAFTE TRENNUNG: Spätestens Ende März will die britische Regierung die förmliche Austrittserklärung gemäß Artikel 50 des Lissabon-Vertrags nach Brüssel schicken. Zwei Jahre sind für die Verhandlungen vorgesehen. Viel zu wenig, um die komplexen Fragen zu klären, die sich für das zukünftige Verhältnis zwischen London und den 27 verbleibenden EU-Staaten stellen. Der kürzlich von seinem Amt zurückgetretene britische Chefdiplomat in Brüssel, Ivan Rogers, schätzte Berichten zufolge, dass es zehn Jahre dauern könnte, bis die Briten ihr neues Verhältnis zur EU geklärt haben werden.

STREIT VOR GERICHT: Die Regierung hält das Votum der Wähler beim Brexit-Referendum für einen Handlungsauftrag durch das Volk, dem kein Parlamentsbeschluss mehr folgen muss. Ihre Gegner argumentieren, in einer parlamentarischen Demokratie müsse das Parlament das letzte Wort haben. Das Referendum ist in ihren Augen nur eine Empfehlung, die keine unmittelbaren Auswirkungen hat.

SCHEIDUNGSMODALITÄTEN: Die britische Premierministerin Theresa May legte am 17. Jänner in einer lange erwarteten Grundsatzrede offen, was sie will: nicht nur die Trennung von der EU, sondern auch vom europäischen Binnenmarkt. Stattdessen erhofft sich May ein "umfassendes Freihandelsabkommen" mit der EU. Doch ihre Rede war zwiespältig. Sie bemühte sich um einen versöhnlichen Ton und warnte zugleich die EU davor, Großbritannien "bestrafen" zu wollen.

BESTE FREUNDE BLEIBEN? Die Befürworter eines klaren Bruchs mit Brüssel befürchten bei einer Niederlage vor Gericht, EU-freundliche Abgeordnete könnten den geplanten "harten" Brexit verwässern. Zudem könnte ein Gesetzgebungsprozess den ambitionierten Zeitplan durcheinanderbringen. Das wollen sie mit allen Mitteln verhindern.

EMOTIONEN: Medien bezeichneten den Prozess auch als "Brexit-Schlacht". Als er im vergangenen Dezember begann, erinnerte der Vorsitzende Richter David Neuberger daran, dass es nicht darum geht, "das Ergebnis des Referendums zu kippen", sondern ausschließlich um rechtliche Fragen. Die Richter des High Courts waren zuvor von einer Zeitung als "Feinde des Volkes" verunglimpft worden, weil sie im Sinne des Parlaments entschieden hatten. Die politische Aktivistin Gina Miller, auf die der Brexit-Prozess zurückgeht, wurde mehrfach bedroht.

DAS URTEIL: Die Richter des Supreme Courts müssen nun im Berufungsverfahren entscheiden, ob die Regierung oder das Parlament das Recht hat, den Austritt aus der EU einzuleiten. Noch nie zuvor waren alle elf Richter mit einem Fall gleichzeitig befasst. Sollte das Urteil zugunsten des Parlaments ausfallen, stehen noch viele Fragen aus. Beispielsweise, ob eine einfache Abstimmung im Parlament genügt oder ob ein aufwendiger Gesetzgebungsprozess notwendig ist.

KRACH MIT VERWANDTEN: Schottland, Wales und Nordirland fordern ein Mitspracherecht für ihre Volksvertretungen. Sollten sie auch die Richter davon überzeugt haben, könnte das den Brexit zusätzlich verzögern. Die Schotten haben mit deutlicher Mehrheit gegen einen EU-Austritt gestimmt. Die Regierung in Edinburgh will die Bindung an die EU so eng wie möglich gestalten oder unabhängig werden. In Nordirland stehen Anfang März Neuwahlen bevor. Das könnte die Scheidung noch komplizierter machen.

(Von Silvia Kusidlo und Christoph Meyer/dpa)

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