Hunderte Menschen, vor allem Frauen und Kinder, dürften zum Zeitpunkt des Kenterns unter Deck eingeschlossen gewesen sein. 104 Passagiere – fast ausschließlich Männer aus Ägypten, Syrien, Pakistan und Palästina – konnten gerettet werden. Sie wurden in ein Flüchtlingslager nahe Athen gebracht. Griechenland rief eine dreitägige Staatstrauer aus, der Wahlkampf für die Parlamentswahlen am 25. Juni wurde vorübergehend eingestellt.
Die griechische Küstenwache nahm neun Überlebende fest. Sie sollen als Schleuser agiert haben. Wie der staatliche Rundfunk (ERT) am Donnerstagabend berichtete, wird den aus Ägypten stammenden Männern unter anderem die Bildung einer kriminellen Organisation vorgeworfen. Sie sollen dem Staatsanwalt der Hafenstadt Kalamata vorgeführt werden. Dieser werde entscheiden, wie es weitergehe, hieß es.
Schleppern sind Mauern egal
So zynisch es klingen mag: Alte, kaum mehr seetüchtige Fischerboote aus Libyen, auf denen Hunderte Menschen ohne Schwimmwesten zusammen gepfercht werden, sind den Behörden seit Jahren bekannt. Und Tragödien wie die aktuelle auch: Die Internationale Organisation für Migration der UNO (IOM) spricht von über 21.000 Todesfällen und Vermissten im Mittelmeer seit 2014. Allein im ersten Quartal dieses Jahres starben 441 Menschen, die Dunkelziffer dürfte viel höher sein.
Und sie werden Teil der Fluchtversuche bleiben, sagen Experten – trotz EU-Asylreform: "Je schwieriger passierbar die Grenzen, je höher die Mauern gebaut werden, symbolisch wie tatsächlich, je mehr Pushbacks stattfinden, desto riskanter und gefährlicher werden die Überfahrten, desto mehr Menschen werden auf die Boote gepfercht, und desto höhere Preise verlangen die Schlepper", sagt Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin der WU Wien, zum KURIER.
Das Boot, das aus der ostlibyschen Hafenstadt Tobruk gestartet war, soll Dienstagmittag zuerst von einem Flugzeug der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex, anschließend von zwei Patrouillenschiffen gesichtet worden sein. Nach dem Unglück berichtete die griechische Küstenwache, die Menschen hätten "Hilfsangebote" abgelehnt und darauf bestanden, nach Italien weiterfahren zu wollen. Kohlenberger betont, solche Meldungen seien mit Vorsicht zu genießen: "Die griechische Küstenwache gilt nicht unbedingt als vertrauenswürdige Quelle. Man denke an die illegalen Pushbacks, die jahrelang geleugnet wurden, für die wir mittlerweile einen verifizierten Videobeweis haben" (der KURIER hat berichtet).
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Tatsächlich zeigen die Zahlen, dass Flüchtende aus dem Osten Libyens und mittlerweile sogar von der türkischen Küste weg genau deswegen nach Italien ausweichen, auch wenn diese Route länger und gefährlicher ist als jene nach Griechenland.
Kritik an EU-Asylreform
Kohlenberger kritisiert weiters, dass die Mittelmeerländer als Ankunftsländer der Geflüchteten zu lange allein gelassen worden seien, "was die Pushbacks natürlich nicht entschuldig". Dazu kämen das Fehlen eines gemeinsamen europäischen Asylverfahrens, "wo europaweit die Chancen auf Anerkennung oder Ablehnung gleich sind, sodass es keinen Unterschied macht, in welchem Land der Asylantrag gestellt wird", und die fehlende Rechtsdurchsetzung der bisher geltenden Regeln: "Da hilft auch keine Reform", so Kohlenberger mit Blick auf das vergangene Woche beschlossene EU-Asylsystem.
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Die Umsetzung dieses sei der Expertin noch unklar: "Wie sollen rasche Rückführungen gelingen, wenn es kein Abkommen und keine Durchsetzungskraft bei den Herkunftsländern gibt? Auch Aufnahmezentren an den Außengrenzen gab es schon, man denke an Moria und was damit passiert ist." Sie plädiert einmal mehr für legale Zugangswege, um irreguläre Migration zu verhindern, über die sei beim Ministerrat aber nicht geredet worden.
Das Mittelmeer bleibt somit eine der gefährlichsten Fluchtrouten der Welt.
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