Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen: Wohl letztes Urteil in einem Nazi-Prozess

Eingangstor zu einem früheren KZ
Als Sekretärin des Lagerkommandanten im ehemaligen KZ Stutthof trägt die heute 99-jährige Irmgard F. Mitschuld am Tod Tausender Nazi-Opfer, bestätigte der deutsche Bundesgerichtshof.

Der Fall Irmgard F. gilt als der wahrscheinlich letzte Prozess in Deutschland zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Massenmorde. Nicht einmal zwanzig Jahre alt war die junge Frau, die zwischen Juni 1943 bis April 1945 als Sekretärin bei  Kommandant Paul Werner Hoppe im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig beschäftigt war. Sie allein organisierte seinen gesamten Schriftverkehr, tippte unter anderem die Listen mit den Namen der nach Auschwitz Deportierten ab.

In einem Verfahren, mehr als sieben Jahrzehnte später, war die damals 97-jährige Frau, bereits im Rollstuhl sitzend in Itzehoe bei einem Prozess verurteilt worden:

Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen: Wohl letztes Urteil in einem Nazi-Prozess

Die 99-jährige Irmgard F., ehemalige KZ-Sekretärin

Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und Beihilfe zum versuchten Mord in weiteren fünf Fällen lautete das Urteil im Dezember 2022.

Ihr war nicht vorgeworfen worden, dass sie selbst gemordet habe - nicht, dass sie auf Menschen geschossen oder sie in die Gaskammern geführt habe. Jedoch: Sie soll zu den Gräueltaten im KZ Hilfe geleistet haben.

"Willentlich unterstützt"

Nach Überzeugung des Gerichts habe sie "willentlich unterstützt, dass Gefangene durch Vergasungen, durch lebensfeindliche Bedingungen im Lager, durch Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und durch Verschickung auf sogenannte Todesmärsche grausam getötet wurden".

Zum damaligen Zeitpunkt war die Angeklagte 18 bzw. 19 Jahre alt. Deswegen verhängte das Gericht eine Jugendstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Doch Irmgard F. ging in Revision, wollte ihre Mitschuld an den Verbrechen der Nazi-Diktatur nicht eingestehen. Am Dienstag schließlich bestätigte der deutsche Bundesgerichtshof die Verurteilung der früheren KZ-Sekretärin wegen Beihilfe zum Massenmord.

Schon beim Eintreten in das Lager sei ihm klar gewesen, dass Stutthof ein "monströses Vernichtungslager" sei, hielt Nebenkläger Abraham Koryski in einem Schreiben ans Gericht fest. Der heute 98-jährige lebt in Haifa und konnte dem Verfahren aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr beiwohnen. "Diejenigen, die in der Lagerverwaltung gearbeitet haben, können nicht sagen, sie hätten nichts gewusst", schrieb der Stutthof-Überlebende Koryski in seiner Stellungnahme: "Sie haben sogar vor allen anderen und vor uns gewusst, was passieren würde."

Im KZ Stutthof und seinen 39 Außenlagern waren zwischen 1939 und 1945 etwa 110.000 Menschen aus 28 Ländern inhaftiert. Fast 65.000 überlebten nicht.

Der Bundesgerichtshof sah es als erwiesen an, dass Irmgard F. eine elementare Rolle innehatte - auch als Stenotypistin. "Es kommt nicht darauf an, ob ein Gehilfe Uniform trägt. In einer bürokratisch verfassten staatlichen Tötungsmaschinerie ist die Tätigkeit einer Bürokraft von zentraler Bedeutung für diese Maschinerie", sagte die Vorsitzende Richterin Gabriele Cirener.

Verurteilter Lagerkommandant 

Der ehemalige KZ-Lagerkommandant von Stutthof, Paul Werner Hoppe, war bereits 1957 verurteilt worden - ebenfalls wegen Beihilfe zum Mord, allerdings nur an einigen Hundert Menschen. Diese Einstufung erscheine aus heutiger Sicht nicht mehr verständlich, sagte Richterin Cirener. "Sie war ein Ausfluss der jahrzehntelangen fehlgeleiteten Verfolgungspraxis“ von Nazi-Tätern in Deutschland.

Die 99-jährige Verurteilte, mit Mundschutz und Kopftuch im Gerichtssaal kaum zu erkennen, bleibt dabei: So schrecklich das Geschehene sei, Mitschuld dafür trage sie keine.

Nebenkläger Koryski aber hielt in seinem Schreiben fest: "Für mich ist es auch heute noch wichtig, dass die Schuldigen vor Gericht gestellt werden... Im Namen aller, die nicht überlebt haben, ist es mir wichtig, dass der Holocaust nicht geleugnet oder verharmlost wird."

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