Meldungen über Raketenangriffe im Norden und Süden der Ukraine
Tag 72 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:
Meldungen über russische Raketenangriffe hat es Samstagnachmittag aus dem Süden und Norden der Ukraine gegeben. In Odessa am Schwarzen Meer schlugen laut Regionalverwaltung mehrere Raketen ein.
Vor den Angriffen auf das Stadtgebiet seien bereits Ziele im Umland von vier Raketen getroffen worden, hieß es. Auch aus dem Norden meldeten örtliche Behörden Attacken. In Myropilske and Chotin in der Region Sumy seien Raketen eingeschlagen, so Gouverneur Dmytro Schywyzkyj.
Dabei sei ein Grenzschutzbeamter verletzt worden, hieß es. Die russischen Streitkräfte hatten sich im April aus dieser Region zurückgezogen.
Nach eigenen Angaben versenkte das ukrainische Militär unterdessen ein Landungsboot der russischen Schwarzmeerflotte. "In den Gewässern des Schwarzen Meeres wurde ein feindliches Landungsboot vom Typ "Serna" vernichtet", berichtete der Pressechef der Militärverwaltung von Odessa, Serhij Bratschuk, auf seinem Telegram-Kanal mit.
An der Front war es zuvor ukrainischen Angaben zufolge vergleichsweise ruhig. "In den Gebieten Donezk und Luhansk wurden am 6. Mai acht Attacken des Feindes abgewehrt, dabei wurden drei gegnerische Panzer, acht Artilleriesysteme, sieben gepanzerte Militärfahrzeuge, ein Auto und drei Einheiten von Pioniertechnik vernichtet", teilte der ukrainische Generalstab am Samstag mit. Sturmversuche habe es vor allem um das Stahlwerk Asowstal gegeben.
An anderen Frontabschnitten, die in den vergangenen Wochen schwer umkämpft waren, beschränkte sich die russische Aktivität vor allem auf militärische Aufklärung und Artilleriebeschuss. So waren in der Region Isjum, von wo aus Russland einen größeren Vorstoß Richtung Kramatorsk plant, um die ukrainischen Einheiten im Donbass einzukesseln, Drohnen zur Erkennung der Verteidigungspositionen im Einsatz.
Die Millionenstadt Charkiw und die vor Donezk gelegenen Ortschaften waren Ziel von Artillerieangriffen. Auch die russische Luftwaffe war im Einsatz.
Später am Samstag wurde bekannt, dass aus dem belagerten Stahlwerk Azovstal in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol offiziellen Angaben zufolge die letzten Frauen, Kinder und älteren Menschen evakuiert wurden. „Dieser Teil der humanitären Operation in Mariupol ist abgeschlossen“, schrieb die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk am Samstag im Nachrichtendienst Telegram. Ob unter den verbliebenen Männern noch Zivilisten sind, ließ sie zunächst offen. Auf dem Werksgelände haben sich weiter die letzten verbliebenen ukrainischen Kämpfer verschanzt, die sich den russischen Truppen entgegenstellen.
Zuvor hatten bereits die prorussischen Separatisten, die an der Seite Moskaus kämpfen, über die Evakuierung von 50 Zivilisten informiert. In anderen Teilen Mariupols, wo vor dem Krieg mehr als 400 000 Menschen lebten, sollen allerdings noch weitere Menschen ausharren.
Militärisches Gerät aus Europa und den USA zerstört
In Charkiw soll Russland eigenen Angaben zufolge in der Nähe des Bahnhofs Bohoduchiw ein großes Lager mit militärischem Gerät aus Europa und den USA zerstört haben.
18 ukrainische Militäreinrichtungen seien in der Nacht getroffen worden, darunter drei Munitionsdepots in Datschne nahe der Stadt Odessa.
Sanktionen wirken
Nach Einschätzung britischer Geheimdienste zeigen die westlichen Sanktionen Wirkung. Moskau falle es demnach immer schwerer, beschädigte militärische Ausrüstung zu ersetzen. Russlands fähigste und modernste Einheiten und Waffen erlitten in der Ukraine beträchtliche Schäden, hieß es am Samstag in einem Update des britischen Verteidigungsministeriums.
So sei etwa mindestens ein T-90M-Panzer, einer von Russlands modernsten Panzern, im Gefecht zerstört worden. Es werde beträchtlicher Summen und viel Zeit bedürfen, um die Stärke der russischen Truppen nach dem Krieg wieder herzustellen, hieß es aus London. Außerdem würden die geltenden Sanktionen die Beschaffung von Ersatz erschweren, weil dadurch Russlands Zugang zu wichtiger Mikroelektronik beschränkt sei.
Schon seit Wochen veröffentlicht die britische Regierung in ungewöhnlich offener Art und Weise regelmäßig Geheimdienstinformationen zum Verlauf des Angriffskriegs. Moskau wirft London eine gezielte Desinformationskampagne vor.
Angst vor dem 9. Mai
In der Ukraine wächst die Angst vor verstärkten russischen Luftangriffen vor dem bevorstehenden Moskauer Tag des Sieges, dem 9. Mai.
Präsident Wolodymyr Selenskij rief zu Vorsicht und Disziplin auf. "Ich bitte alle unsere Bürger - und gerade in diesen Tagen -, den Luftalarm nicht zu ignorieren", sagte er am Freitag in seiner abendlichen Videoansprache. "Bitte, das ist Ihr Leben, das Leben Ihrer Kinder." In frontnahen Städten wie Odessa soll zwei Tage eine Ausgangssperre gelten.
Russland feiert am Montag, dem 9. Mai, den sowjetischen Sieg über Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Bei der traditionellen großen Militärparade in Moskau wird Präsident Wladimir Putin sprechen. Erwartet wird, dass er dabei die weitere Richtung für den zweieinhalb Monate alten Angriffskrieg gegen die Ukraine vorgibt.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer sollten am Wochenende strikt den Anordnungen der Behörden folgen und sich an örtliche Ausgangssperren halten, mahnte Selenskij. Wegen der Minengefahr sei das Betreten von Wäldern verboten, die vom russischen Militär besetzt waren. Das ukrainische Innenministerium kündigte an, mit 5.000 Mann zu patrouillieren, um mögliche Provokationen zu unterbinden.
Ausgangssperre in Odessa
Im südukrainischen Gebiet Odessa müssen die Menschen von Sonntagabend um 22.00 Uhr Ortszeit (21.00 Uhr MESZ) bis Dienstagmorgen um 5.00 Uhr Ortszeit (4.00 Uhr MESZ) zuhause bleiben.
In der Hauptstadt Kiew werde es keine Ausgangssperre geben, sagte Bürgermeister Vitali Klitschko. Aber auch er riet den Menschen, zuhause zu bleiben. "In den kommenden Tagen besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit von Raketenbeschuss in allen Regionen der Ukraine", sagte er.
Mariupol: 50 Zivilisten freigekommen
In Mariupol wollten russische Truppen am Samstag letztmals eine Feuerpause einlegen, um Zivilisten den Abzug aus dem umkämpften Stahlwerk Asowstal zu ermöglichen.
50 Zivilisten sollen am Samstag laut prorussischen Separatisten das Stahlwerk verlassen haben können. "Heute, am 7. Mai, sind vom Territorium des Metallurgiekombinats Asowstal in Mariupol 50 Menschen evakuiert worden", teilte der Stab der selbst ernannten Donezker Volksrepublik am Samstag auf seinem Telegram-Kanal mit.
Laut dem Kommandeur des Donezker Regiments "Wostok" ("Osten"), Alexander Chodakowski, ist es dabei zum ersten Mal seit der Belagerung zu einem direkten Treffen von Unterhändlern gekommen. "Eine Gruppe des Gegners kam mit weißer Flagge auf die Straße, die zur Brücke führt, auf der wir die evakuierten Zivilisten aus Asowstal empfangen haben", schrieb der 49-Jährige auf seinem Telegram-Kanal.
Von ukrainischer Seite oder unabhängiger Seite gibt es bisher keine Bestätigung dafür. Darüber, wohin die Zivilisten verbracht wurden, machten die Separatisten ebenfalls keine Angaben.
Unter Vermittlung der Vereinten Nationen und des Roten Kreuzes wurden in der vergangenen Woche Flüchtlingskorridore eingerichtet, mit denen Zivilisten aus dem belagerten Stahlwerk entkommen konnten. Laut UNO-Generalsekretär António Guterres konnten so insgesamt etwa 500 Personen gerettet werden. In den Bunkeranlagen des Werks in der stark zerstörten Stadt hatten sich neben Zivilisten auch die letzten ukrainischen Kämpfer in Mariupol verschanzt.
Ziel der russischen Truppen ist angeblich, das mit Bunkern und Tunneln stark befestigte Fabrikgelände bis zum 9. Mai zu erobern.
Bei den bisherigen Evakuierungen durften nur Zivilisten, meist Frauen, Kinder oder ältere Menschen, das Werk in Richtung ukrainisch kontrolliertes Gebiet verlassen.
Nato warnt vor Atomwaffeneinsatz
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte Russland vor dem Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg. "Unsere Botschaft ist eindeutig: Nach einem Einsatz von Nuklearwaffen würde es auf allen Seiten nur Verlierer geben", sagte Stoltenberg der Welt am Sonntag. "Einen Atomkrieg kann man nicht gewinnen, und er sollte nie geführt werden, das gilt auch für Russland."
Die Allianz hat laut Stoltenberg aber keine Hinweise darauf, dass speziell die russischen Nuklearwaffen seit Beginn des Krieges am 24. Februar in einer höheren Bereitschaftsstufe seien. Moskau hat allgemein seine Abschreckungswaffen in Alarmbereitschaft versetzt, was als Drohung auch mit dem atomaren Arsenal verstanden wird.
Gestern betonte das russische Außenministerium, keine Atomwaffen einsetzen zu wollen. Die russische Atomdoktrin sieht einen Einsatz der Atomwaffen nur bei einer Gefährdung der Existenz des Landes selbst vor, so Alexej Saizew, ein Sprecher des Ministeriums. Dem Westen warf der Diplomat eine bewusste Eskalation mithilfe der „erfundenen atomaren Bedrohung durch Russland“ vor.
Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, schloss unterdessen eine Zusammenarbeit mit Kremlchef Putin nach Kriegende aus. "Russlands Präsident hat sich von der zivilisierten Welt verabschiedet", sagte Heusgen den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Samstag). Putin gehöre für die von Russland begangenen Kriegsverbrechen vor ein internationales Gericht.
Kommentare