Das Mädchen
An diesen Fragen arbeitet sich Deutschland gerade ab, denn Merkel hat Geburtstag. 70 Jahre ist „Kohls Mädchen“ alt, ein Spitzname, den sie selbst im Pensionsalter nicht loswird. Verständlich, beschreibt er doch das ambivalente Verhältnis der CDU zu ihrer Kanzlerin: Kaum einer in der damaligen Männertruppe wollte die Ostdeutsche an der Parteispitze, und fürs Kanzleramt hielten sie ohnehin alle für ungeeignet, allen voran der jetzige CDU-Chef Merz. Den räumte sie uncharmant zur Seite, ihren Förderer Helmut Kohl ebenso; und auch Gerhard Schröder musste erkennen, dass seine Einschätzung vom Wahlabend grundfalsch war. „Sie glaubt, sie könnte Kanzlerin werden? Wir müssen die Kirche mal im Dorf lassen“, sagt er da lachend. 16 Jahre Merkel sollten folgen.
Schröders Machogehabe wirkte ein paar Jahre wie aus der Zeit gefallen. Heute ist der männlich-polternde Politikertyp, an dem Merkel sich immer abarbeitete, wieder en vogue: Wie sie Augenbrauen und Mundwinkel hochzog, als Donald Trump neben ihr sagte, in seinen Adern fließe „deutsches Blut“, ging 2017 um die Welt. Ähnlich die Bilder von ihr und Wladimir Putin, der ihr – schon damals im Überlegenheitsgestus – seinen Hund vor die Nase setze. Merkel hat Angst vor Hunden, das war dem Kreml wohlbekannt. Sie hat das Ganze zäh ausgesessen.
Die Aussitzerin
Das Aussitzen, das beherrschte sie wie keine Zweite. Heute wird ihr das zur Last gelegt: Krisenmanagerin sei sie gewesen, keine Krisenlöserin, urteilt der Spiegel. Die FAZ, schon während ihrer Amtszeit stets von ihr enttäuscht, vermisst auch im Nachhinein Ideen, vor allem in er Flüchtlingspolitik. Sie habe „den Mehrheitswillen dem Risiko vorgezogen“, heißt es. Inhaltlichen Masterplan hatte sie nie einen.
Das stimmt wohl, und das hat sie auch selbst nie verleugnet. „Politik ist das, was möglich ist“, sagte sie nicht nur einmal. Damit erklärte sie auch, warum sie als Physikerin und überzeugte Atom-Befürworterin aus der Kernkraft ausstieg oder als Putin-Verachterin versuchte, Russland wirtschaftlich zu zähmen. Naiv pro-russisch (wie mancher aus der SPD) war sie deshalb lange nicht, vielmehr pragmatisch – die Wirtschaft wollte billiges Gas, sie besorgte es ihr.
Ob es stimmt, dass Putin mit einer deutschen Kanzlerin Merkel die Ukraine nicht angegriffen hätte, wie Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel jetzt sagt, ist jedoch schwer zu beweisen. Dass Merkel ihn gut in Schach halten konnte, ist zwar unbestritten. Seine Entwicklung der letzten Jahre überraschte aber auch sie. Ein paar Monate nach der Invasion, da war sie schon weg aus der Politik, brach sie ihr selbst auferlegtes Schweigegelübde: Am Ende ihrer Amtszeit habe sie „nicht mehr die Kraft gehabt, mich durchzusetzen“, sagte sie da.
Die Neuerfundene
Darüber wird man im Herbst wohl noch mehr erfahren. Da dann erscheinen ihre Memoiren, 700 Seiten namens „Freiheit. Erinnerungen 1954 - 2021“; seit 2015 soll sie daran arbeiten. Beobachter erwarten sich viel, die Süddeutsche spricht sogar von „Merkels Neuerfindung“.
Den Deutschen wird ein bisschen mehr Merkel in ihrem Leben nur recht sein. Immerhin 61 Prozent sagen, alles sei schlechter geworden, seit sie weg ist, und 40 Prozent fehlt sie persönlich.
Bis dahin aber heißt es warten. Öffentlich groß feiern wird Merkel nämlich nicht – das hat sie noch nie.
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