An der Macht ausgebrannt: Britische Konservative in der Existenzkrise
„Shambles“, also Durcheinander oder Saustall. Das Wort schnappt man dieser Tage oft im Pub auf, wenn über britische Politik geklagt wird. Kein Wunder. Es fällt Briten als erstes zu ihrer konservativen Tory-Regierung ein.
Andere Assoziationen sind nicht viel besser: Unbrauchbar, Mist, korrupt. Inkompetent steht ganz oben auf ähnlichen Listen zu Liz Truss, die gerade ihren Rücktritt als Premierministerin erklären musste. Bei Vorgänger Boris Johnson dominierte ein anderes wenig schmeichelhaftes Wort: Lügner.
Wie wenig Vertrauen viele Briten in die regierenden Tories nach 12 Jahren an der Macht haben zeigen auch diverse Umfragen, in denen sie so klar wie seit Jahrzehnten nicht hinter der oppositionellen Labour Partei liegen. Wähler verbinden zwar oft „langweilig“, mit Labour-Chef Keir Starmer, aber auch kompetent und zuverlässig. Viele sehnen sich nach vielen Tory-Dramen wohl nach Stabilität. „Vielleicht wähle ich jetzt Labour“, wird da getwittert: „Ich teile zwar ihre Vision nicht, aber Labour ist einfach nicht so schrecklich wie die Tories“.
Selbst konservative Zeitungen sehen die Zeit für eine Neuorientierung auf den Oppositionsbänken gekommen. „Historisch gesehen scheint es eine Begrenzung für Regierungsparteien von etwa 13 oder 14 Jahren zu geben“, argumentiert der Telegraph. So hielten sich die Tories von 1951 bis 1964 an der Macht. Labour triumphierte 1997 unter Tony Blair, verlor aber 2010. „Bis zur Wahl werden die Tories wohl 14 Jahre im Amt sein, und nichts deutet darauf hin, dass sie diese unsichtbare Barriere überwinden“, so der Telegraph.
Modern konservativ
Cameron versprach 2010 modernen Konservatismus und brachte Briten das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe. Aber heute erinnern sich viele vor allem an seinen umstrittenen Sparkurs nach der Weltfinanzkrise und das Brexit-Referendum. Der Guardian nannte ihn einen „Premier der gebrochenen Versprechen“, der „als der Mann, der Großbritannien aus Europa herausnahm, in die Geschichte eingehen wird“.
Winston Churchill
3.160 Tage - Churchill war zweimal Premierminister: Zwischen 1940 und 1945 sowie zwischen 1951 und 1955. Trat aus gesundheitlichen Gründen zurück.
Anthony Eden
644 Tage - Der ausgebildete Diplomat erlangte traurigen Ruhm wegen der Konflikte zwischen Großbritannien und den USA unter seiner Regentschaft. Trat aus gesundheitlichen Gründen zurück.
Harold Macmillan
2.472 Tage - "Supermac" regierte Großbritannien in einer wirtschaftlich erfolgreichen Zeit. Trat nach Sex-Skandalen in seinem Kabinett zurück.
Harold Wilson (l.)
2.835 Tage - Der Sozialdemokrat regierte mit Unterbrechung zwei Mal als Premierminister. Trat für viele überraschend in seiner zweiten Amtszeit zurück.
Margaret "Maggie" Thatcher
4.224 Tage - Die "Eiserne Lady" ist bis heute die am längsten dienende britische Regierungschefin. Wegen ihrer knallharten kapitalistischen Politik und des britischen Sieges im Falkland-Krieg ist Thatcher bis heute eine der polarisierendsten politischen Figuren des Königreichs. Trat 1990 zurück, als sie die Unterstützung innerhalb der eigenen Partei verlor.
John Major
2.346 Tage - Die britische Wirtschaft erlebte unter Major eine schwierige Phase, hinzu kamen mehrere Skandale innerhalb der konservativen Partei. Er trat zurück.
Tony Blair
3.707 Tage - Der Sozialdemokrat ist nach Thatcher der einzige britische Regierungschef, der länger als zehn Jahre im Amt blieb. Sein Vermächtnis polarisiert bis heute, so stand Großbritannien unter Blair stets eng an der Seite der USA im "Kampf gegen den Terror" - wegen des Misserfolgs der britischen Armee in Afghanistan trat er schließlich zurück.
Gordon Brown
1.049 Tage - Brown übernahm die Regierung kurz vor der Weltwirtschaftskrise 2008, deren Folgen ihn schließlich seine Popularität kosteten. Die Labour-Partei verlor unter ihm die folgenden Wahlen.
David Cameron
2.254 Tage - Der Konservative war in persönliche Skandale involviert, besiegelte sein Ende als Regierungschef aber mit der Brexit-Abstimmung, die er ermöglichte. Obwohl Cameron selbst vehement für einen Verbleib in der EU warb, stimmte die Mehrheit der Briten dagegen - und der Premier trat zurück.
Theresa May
1.107 Tage - Das Ergebnis des Brexit-Referendums musste schließlich May ausbaden, mitsamt der wirtschaftlichen Folgen. Als auch die innerparteiliche Opposition gegen sie immer größer wurde, trat May zurück.
Boris Johnson
1.140 Tage - Johnson, der als Londoner Bürgermeister selbst eine der führenden Figuren der Brexit-Bewegung gewesen war, übernahm die Regierung und gewann die anschließenden Wahlen. Er musste schließlich nach einer ganzen Reihe von persönlichen Skandalen (Stichwort: "Partygate") zurücktreten.
Elizabeth "Liz" Truss
45 Tage - Truss übernahm und gab an, die neue Maggie Thatcher sein zu wollen. In der Amtszeit-Tabelle landete Truss nun auf dem gegenüberliegenden Ende: Ihr Rücktritt, ausgelöst durch schwerwiegende Turbulenzen ihrer Wirtschaftspolitik, machte sie nun zur am kürzesten dienenden Premierministerin des Königreichs Großbritannien.
Seine Nachfolgerin Theresa May wollte für ihren Einsatz für Frauen- und andere Rechte bekannt werden, war dann aber mit Brexit-Dramen überfordert. Der populistische Johnson trumpfte bei Neuwahlen 2019 mit dem Versprechen, Brexit zu „beenden“, groß auf. Bald aber dominierten Fehltritte, Kehrtwenden, COVID und Skandale, so auch die „Partygate“-Affäre, die Schlagzeilen. Sein Brexit-Deal sorgt bis heute für Konflikte. Die vielen zu dogmatische Truss kam gar nicht erst in die Gänge.
Verlorenes Jahrzehnt
Was bleibt den Briten also nach 12 Jahren Tories? Das Wochenmagazin The Week fasste es heuer so zusammen: „Sparpolitik, Brexit und Pandemie“. Kritiker sprechen oft auch von einem „verlorenen Jahrzehnt“, das das britische Sozialsystem geschwächt hat.
„Viele bekommen seit über 10 Jahren wegen Sparmaßnahmen Gehaltserhöhungen unterhalb der Inflationsrate“, sagt Professor Pete Dorey, Politologe an der Universität Cardiff, dem KURIER. „Öffentliche Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit, Sozialdienste und Polizei sind unterfinanziert. Und viele Menschen mit Vollzeitjobs müssen jetzt Sozialleistungen zum 'Aufstocken' beantragen oder Tafeln aufsuchen, weil sie nicht genug verdienen“. Hohe Inflation und ein Jahr voller Streiks, von der Bahn bis zur Post, machen da jetzt die Partei besonders verwundbar.
"Wir waren lange gut dran mit den Tories"
Tory-Politiker argumentieren aber gerne, dass sie oft die „richtigen großen Entscheidungen“ getroffen haben, etwa mit dem flotten COVID-Impfprogramm, Kurzarbeit und Finanzhilfen in der Pandemie und klarer Unterstützung für die Ukraine.
„Wir waren lange wirklich ganz gut dran mit den Tories“, meint etwa Kevin, 66, zum KURIER. „Erst seit COVID ist es wirklich bergab gegangen. Aber Labour traue ich einfach nicht. Sie sagen nie, wie sie es besser machen würden“.
Statt Tory-Tohuwabohu und Machtkämpfen will der Londoner kompetente Köpfe am gleichen Strang ziehen sehen. „Es gibt zu viel Gezänk“, klagt er: „Stellt euch hinter einen gemeinsamen Boss und konzentriert euch auf gute Arbeit“.
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