Donald Trump ist für viele Amerikaner nicht die größte Sorge
Jeden Tag ein Sager, noch schockierender als ein paar Stunden davor: Die illegalen Migranten, „die sie aus ihren Gefängnissen rauslassen und dann zu uns schicken – ich würde sie ja als Tiere bezeichnen“, sagte Donald Trump am Wochenende bei seinem Blitzbesuch in Ohio. Gleich schob er nach:
Die verurteilten Straftäter des 6. Jänner, die das Kapitol gestürmt hatten, seien „Geiseln der US-Justiz“, allesamt Opfer eines „betrügerischen Joe Biden“.
Als würde Trump allmählich die verbale Schmerzgrenze überschreiten: So deftig teilt der Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei mittlerweile aus, dass ihn zumindest im Bundesstaat Ohio am Tag der Vorwahlen kaum jemand noch beim Wort zu nehmen scheint.
„Es ist nicht gerade hilfreich“, meint auch Aaron M. Sellers dazu, dass Trump ständig behaupte, die Wahlen 2020 seien ihm gestohlen worden. Doch der leitende Mitarbeiter der Wahlbehörden im „Buckeye state“ beruhigt: Die Behörden arbeiteten professionell, Wahlfälschungen seien dieses Mal ebenso ausgeschlossen wie schon bei den vorangegangenen Urnengängen.
Vom kleinen Lebensmittelladen in der Hauptstadt Columbus bis zu den Medien des knapp 12 Millionen Einwohner zählenden Bundesstaates fühlt es sich ähnlich an: Die Probleme liegen ganz woanders. Eine Welle von verheerenden Tornados fegte in der Vorwoche durch die Region, die Preise für Lebensmittel, Benzin und Wohnen sind extrem gestiegen, Schul- und Studienkosten ebenso. Drogengewalt und Schießereien, sie zählen auch im sonst weitgehend ruhigen Ohio zum Alltag.
"Die Mauer muss her"
Auch Jack Etheridge übergeht die verbalen Ausreißer Trumps geflissentlich. Der Trump-Delegierte für ein Amt in Ohio steht vor seinem Wahllokal in einem Vorort von Columbus und erwartet von „seinem künftigen Präsidenten“ vor allem, dass er die Wirtschaft wieder in Schwung bringen solle. Freundlich beharrt der Pensionist mit dem großen schwarzen Stetson: Nein, von seinen politischen Kontrahenten wolle er sich absolut nicht auseinanderdividieren lassen. Und auch über die hohen Migrationszahlen in den USA will er sich nicht auslassen, ehe seine Nachbarin herbeistürmt und ungefragt postuliert: „Die Mauer muss her. Trump muss die Mauer bauen.“
Bei den Vorwahlen am Dienstag war in Ohio keine Überraschung zu erwarten: Schon seit zwei Wochen steht fest, dass Präsident Joe Biden für die Demokraten und Donald Trump für die Republikaner ins Rennen ums Weiße Haus ziehen werden. Vorgewählt wurden in Ohio aber auch zahlreiche andere Ämter im Bundesstaat – von den Abgeordneten und Senatoren bis hin zu Staatsanwälten und Richtern.
Pat Barnancle würde gerne als Abgeordneter ins Parlament in Columbus einziehen. Bei eisigem Wind und mit ein paar Wahlwerbezetteln in der Hand kämpft er sich in einem Vorort der Stadt von Haustür zu Haustür. Eine überwiegend von demokratischen Wählern bewohnte Straßenzeile, doch kaum jemand öffnet. Die Pickup-Autos neben dem Rasen muten fast halb so groß wie Häuschen an.
"Trump will den Leuten Angst machen"
Als endlich eine Tür aufgeht, stürmt ein junger Schäferhund heraus. Er wolle Infrastruktur in diese Nachbarschaft bringen, verspricht Barnacle einem jungen Paar auf deren Veranda. Die beiden stimmen zu: Keine Menschen auf der Straße, keine Geschäfte, keine Restaurants, kein Arzt, kein öffentlicher Verkehr – leere amerikanische Vorstadt.
Die Stimmen des jungen Paares hat der 39-jährige Wahlwerber sicher – und einig ist sich der Jurist mit ihnen auch darin: „Trump will den Leuten nur Angst machen und ihnen den Eindruck vermitteln, er sei der Einzige, der alle Probleme lösen könnte.“
Vertrauen in die USA
Barnacle gibt sich entspannt, ein Ereignis wie der Sturm aus Kapitol werde sich nicht wiederholen, die amerikanische Demokratie nicht untergehen. Die Gewissheit, dass der Ex-Präsident den USA nicht schwersten Schaden antun könne, sagt Barnacle, gebe ihm der Staat selbst. „Unsere Gerichte sind unabhängig, unsere Institutionen stark.“
Doch wie sehr politische Macht neue Spuren ziehen kann, zeigt nicht zuletzt das Beispiel Ohio selbst. 2012 war es das letzte Mal, dass der Staat für einen demokratischen Präsidenten – damals Barack Obama - stimmte. 2016 und 2020 votierte Ohio für Trump – mit seinen 18 Wahlmännern von für den Sieg erforderlichen 270 Stimmen kein unwichtiger Beitrag. Auch in Ohios Repräsentantenhaus und dem Senat besitzen die Republikaner eine sogenannte Super-Mehrheit.
Und das, obwohl der von Industrie und Landwirtschaft geprägte Staat im Mittleren Westen weitaus liberaler ist, als es laut Wahlergebnis den Anschein hätte: „Im Herbst haben bei uns 57 Prozent der Wähler bei einem Referendum für das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung und ebenso für den freien Genuss von Marihuana gestimmt“, erzählt Jen Miller von der Bürgerorganisation "League of Women Voters".
Doch seit mehr als zehn Jahren ziehen die republikanischen Politiker die Grenzen in den Wahlbezirken neu (gerrymandering). Diese Landkarte gibt ihnen die immense Macht, Gesetze durchzusetzen, auch wenn sie den Wünschen der Mehrheit der Bevölkerung widersprechen.
„Wir müssen den Staat Ohio von den Politikern zurückholen“, fordert Aktivistin Jen Miller, „denn so, wie es jetzt läuft, schadet das allen Wählern, den republikanischen und den demokratischen. Die Politiker müssen sich nicht mehr um den Wählerwillen kümmern, sie gewinnen ja sowieso.“
Ein drittes Mal für Trump
Damit sich dies wieder ändert und die Wahlsprengel künftig nach der echten Zusammensetzung der Bevölkerung richten, wird im November über einen Verfassungszusatz abgestimmt. Doch bei den Präsidentenwahlen wird diese Korrektur noch nicht zum Tragen kommen. Die Stimme Ohios dürfte damit ein drittes Mal für Donald Trump ausfallen.
Kritische Stimmen sind am Vorwahltag in Columbus, Ohio auch in den Wahllokalen zu hören. „Dieses Wahlsystem bei uns stammt aus dem 18. Jahrhundert“, sagt einer Saalbeaufsichtiger, und ein vorbeikommender Wähler stimmt zu: „Wir sind eine Demokratie, aber wir wählen unseren Präsidenten nicht direkt, sondern über ein kompliziertes Modell mit Wahlmännern.“
Ob es in absehbarer Zeit ein reformiertes System geben werde? „Es wird sich schon ändern“, lacht auch Miller, „aber frühestens, wenn ich von dieser Welt gehe.“
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