Mit ihrem Teil-Rückzug versuchte sie Schaden zu begrenzen. Ruhiger wurde es deswegen aber nicht. Medien wie Politik waren von der Nachfolge-Frage gefesselt. Und Merkel, die sich zurückzog, wirkte, als hätte sie mit ihrer Partei abgeschlossen.
Kein Einsatz im Europawahlkampf, keine Reaktion auf innenpolitische Debatten oder Unterstützung für Wunschnachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK), die ob ihrer Patzer und Pannen unter Dauerbeschuss stand. Der Paarlauf zwischen Noch-Kanzlerin und ihrer Nachfolgerin geriet zum Hürdenlauf. Kramp-Karrenbauer sollte Merkels Erbe fortsetzen, sich aber von ihr abgrenzen. Und um jene bemühen, die sie in der damals knappen Entscheidung nicht zur Parteichefin gewählt hatten.
Das Experiment scheiterte nach einem Jahr – mit einem innenpolitischen Beben. Als in Thüringen Christdemokraten und Rechtsextreme einen gemeinsamen Ministerpräsidenten wählten, und Kramp-Karrenbauer dies nicht verhindern konnte, schaltete sich die in Südafrika weilende Kanzlerin ein. Das Ergebnis muss rückgängig gemacht werden, orderte sie und entriss der CDU-Chefin das Heft des Handelns. Mit dem Rücktritt von AKK war Merkels Hoffnung auf eine geordnete Übergabe vorerst geplatzt.
Gleich drei Männer wollen sie beerben – einer, der ihr inhaltlich nah ist (Armin Laschet), ein alter Rivale (Friedrich Merz) und einer, den sie als Minister entlassen hat (Norbert Röttgen). Ihr Zusammenspiel mit Merz oder Röttgen kann man sich ausmalen.
Am 16. Jänner soll der CDU-Chef gewählt werden – der Spitzenkandidat fürs Kanzleramt vielleicht später, hört man. Wer immer kommt, wird sich neben einer Kanzlerin warmlaufen müssen, die beliebter denn je ist. Zwar genoss sie in ihrer Amtszeit durchwegs hohes Ansehen, doch im Geschrei des Merkel-muss-weg-Chors der letzten Jahre ging das unter. Jetzt erlebt sie ausgerechnet in ihrem schwersten Jahr ein Comeback: In ihrer vierten Krise – Finanzen (2008), Fukushima (2011), Flucht (2015) – wirkt sie routiniert, inhaltlich versiert, was auch an ihrer Vergangenheit als Naturwissenschafterin liegt. Bei Pressekonferenzen, Fernsehansprachen oder im Podcast erläutert sie mal fürsorglich, dann wieder streng den Ernst der Lage.
Eine erstaunliche Wende für eine, die ihre Politik nie erklärt und bei Entscheidungen wenig auf die Partei-Linie geachtet hat. Der Atomausstieg, die Abschaffung der Wehrpflicht, die Ehe für alle – alles Beispiele, die sie freigab. Prinzipienlos schimpfen Kritiker, die von einer entkernten CDU sprechen. Merkelianer feiern ihr Vorgehen wiederum als Erfolg: Sie hört aufs Volk, für die genannten Themen gab es in der Gesellschaft eine breite Mehrheit.
Auch im Kampf gegen das Virus vollzog sie eine Wende – und brachte in Europa ein milliardenschweres Hilfsprogramm mit auf den Weg. Die sparsamen Deutschen vertrauten ihr – mehr als 71 Prozent sind mit ihrer Arbeit zufrieden. Wären nächsten Sonntag Bundestagswahlen, würden 36 Prozent die Union wählen – 2017 taten es 33 Prozent.
Wie und ob die Partei von diesem Bonus profitiert, wird sich zeigen. Sechs Wahlen stehen an – inklusive Bundestagswahl am 26. September. Spätestens dann wird diskutiert werden, ob die Regierung die Krise wirklich so gut gemeistert hat. Und was von der Ära Merkel bleibt. Die Kanzlerin selbst dürfte sich dann vielleicht schon eher Gedanken machen, ob sie zuerst in die Rocky Mountains oder nach Sibirien fährt.
Was bedeutet ein Deutschland ohne Merkel in Europa?
Eine Visionärin oder schöpferische Gestalterin war Angela Merkel noch nie, findet EU-Experte Stefan Lehne von Carnegie Europa. Sie habe sich eher als Krisenmanagerin bewährt, die versuchte, "das Schlimmste zu verhindern" – mit einer rationalen, vorsichtigen Art, die für die Krisen der letzten Jahre enorm positiv gewesen sei.
Ihre wohl persönlichste Krise erlebte sie 2015/16, weil sie mit ihrer eigenen bzw. nationalen Entscheidung verbunden war – nämlich in der Flüchtlingskrise die Grenzen nicht zu schließen. "Man hätte versuchen sollen, gemeinschaftlich zu handeln", so Lehne. Erst mit dem EU-Türkei-Deal, den Merkel mitverhandelte, wurde das Problem abgefedert. Während der gerade beendeten deutschen EU-Ratspräsidentschaft gab es erneut Bemühen, einen EU-Migrationspakt zu schnüren – ohne Erfolg. Einen Mechanismus zur Verteilung lehnen einzelne Mitglieder ab. Lehne: "Das Thema dient Populisten, um sich zu profilieren. Sie wollen es nicht wirklich lösen, daher geht nichts weiter."
Großen Fortschritt gab es aber in der jüngsten Krise, wo die Kanzlerin überraschte: Ihr Einsatz für den Corona-Wiederaufbaufonds, eine Idee des französischen Präsidenten und der südlichen Länder, sei "eine Meisterleistung. Sie hat ein Programm mit auf den Weg gesetzt, das in Deutschland hohe Akzeptanz fand, obwohl es ein Tabubruch war." Deutschland, bisher einer der sparsamsten Nettozahler, hat die Kommission ermächtigt, Gelder auf den Märkten aufzunehmen, die als Darlehen gezahlt werden.
Wie es dazu kam? "Merkel hat gesehen, dass die Kluft zwischen Nord und Süd immer größer und längerfristig die Eurozone gefährdet wird." Für Lehne ist es eine Erneuerung – "und die einzige wirklich kreative Leistung" Merkels, die nachwirken werde.
In den Trauergesang jener, die in ihrem Rückzug den Untergang der EU sehen, will Lehne nicht einstimmen. "Die Rolle Deutschlands in der EU ist nicht der Persönlichkeit an der Spitze des Landes geschuldet, sondern dem wirtschaftlichen und politischen Gewicht des Landes." Auch Merkels mögliche Nachfolger würden sich für den Zusammenhalt in der EU einsetzen. Viel Kreativität sei aber, so Lehne, auch von ihnen nicht zu erwarten.
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