400.000 Flüchtlinge – Kanzler drängt auf deutsches Limit

Auf Distanz beim Asyl: Merkel und Faymann verfolgen unterschiedliche Strategien
Werner Faymann erwartet sich vom EU-Sondergipfel das Ende des Durchwinkens. Von Deutschland fordert er, dass es einen Richtwert in der Größenordnung von jenem in Österreich definiert.

KURIER: Herr Bundeskanzler, seit September 2015 gab es zehn EU-Treffen zur Flüchtlingskrise. Gibt es am Montag bei der elften Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs die große Lösung?

Werner Faymann: Es wird drei Beschlüsse geben: Erstens, eine bessere Zusammenarbeit mit der Türkei, Schlepper sollen gemeinsam bekämpft und abgewiesene Asylwerber zurückgeführt werden. Zweitens, das Durchwinken muss ein Ende haben. Und drittens, an Stelle des Durchwinkens sollen Flüchtlinge von außerhalb der EU, aus der Türkei, dem Libanon und Jordanien mit UNHCR-Hilfe von EU-Staaten übernommen werden. Es soll nur mehr eine legale Einreise auf Basis von Kontingenten geben an Stelle des chaotischen und unkoordinierten Durchwinkens.

Wie soll das funktionieren, wenn nicht einmal die beschlossenen 160.000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien verteilt werden können, weil vor allem die Visegrád-Länder einen fairen Lastenausgleich blockieren?

Zwischen dem großen Ziel und der europäischen Wirklichkeit klafft eine große Lücke. Wenn alle Länder auf Basis des österreichischen Richtwertes (37.500 Flüchtlinge im Jahr 2016, Anm.) handeln würden, könnte die EU zwei Millionen Flüchtlinge aufnehmen. Das Durchwinken darf nie mehr stattfinden.

Wie kann dieses Durchwinken beendet werden?

Auch Deutschland muss eine Zahl für die Aufnahme von Flüchtlingen sagen, die es bereit ist, aus der Region um Syrien und der Türkei zu holen. Deutschland muss endlich Klarheit schaffen, sonst werden weiterhin Flüchtlinge Richtung Deutschland losziehen.

Welche Zahl müsste Deutschland Ihrer Meinung nach als Obergrenze definieren?

Nimmt man den österreichischen Richtwert her, könnte Deutschland rund 400.000 Flüchtlinge als Kontingent nennen. So lange Deutschland das nicht sagt, ist klar, was passiert: Die Flüchtlinge glauben weiterhin, dass sie durchgewunken werden.

Und Sie gehen davon aus, dass die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, diese Zahl bald nennen wird?

Ich hoffe es. So lange das nicht der Fall ist, glaubt jeder Flüchtling, er kommt über die Balkanroute nach Österreich und dann weiter nach Deutschland. Wir müssen uns fragen, was im Juli und im August passieren könnte, wenn der Schutz der EU-Außengrenze weiterhin nicht funktioniert und das Durchwinken weiterhin praktiziert wird. Millionen Menschen überlegen noch zu kommen.

Eine andere Frage: Warum haben Sie im Jänner Ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik so radikal geändert – und damit Verbündete wie Merkel und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor den Kopf gestoßen?

Wir haben im September die Grenzen geöffnet, als Notlösung für kurze Zeit. Ich habe jedoch bereits am 6. September gesagt, dass wir zurück zur Normalität gelangen müssen. Ich habe immer gesagt, wir müssen die Zahl der Flüchtlinge massiv reduzieren. Ja, ich wollte immer eine europäische Lösung. Aber viele EU-Länder haben sich darauf verlassen, dass drei Länder – Österreich, Deutschland und Schweden – Flüchtlinge aufnehmen. Es stellte sich immer mehr heraus, dass die EU-Maßnahmen einfach nicht ausreichen und die Länder absolut nicht solidarisch sind. Wir haben dann innerhalb der Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern geklärt, wie viele Flüchtlinge wir in der Lage sind, in diesem Jahr aufzunehmen. Es ist eine Notfall-Maßnahme, und es wäre für Österreich unverantwortlich, noch länger auf eine gemeinsame EU-Lösung zu warten. Ich habe niemanden vor den Kopf gestoßen, sondern immer konsequent Österreichs Interessen verfolgt. Das ist meine Aufgabe als Regierungschef.

400.000 Flüchtlinge – Kanzler drängt auf deutsches Limit

Woran scheitert eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik?

Es werden Beschlüsse nicht umgesetzt. Im Herbst wurde vereinbart, dass Griechenland 50.000 Plätze für die Unterbringung von Flüchtlingen schafft. Die haben aber geglaubt, das Durchwinken geht jetzt jahrelang weiter. Außerdem gab es bisher zu wenig organisatorische Unterstützung für Athen. Frontex ist immer noch keine Einrichtung, die die EU-Außengrenze effizient schützt. Seit 14 Jahren verhandelt die EU-Kommission Abkommen zur Rückführung mit Marokko, und immer ist noch kein Abschluss erreicht. So kann es nicht weitergehen.

Juncker hat Österreich kürzlich scharf kritisiert, weil die Grenzkontrollen zum EU-Mitglied Slowenien den Binnenmarkt zerstören. Ist Österreich der Totengräber des Binnenmarktes und des Schengen-Systems?

Das muss ich aufs Schärfste zurückweisen. Die Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen und zugesehen haben, wie drei Länder die Verantwortung für ganz Europa übernommen haben, haben Grenzzäune provoziert. Ich kann doch nicht weiter zusehen, dass auch in Zukunft Millionen von Menschen ungeordnet und nahezu unkontrolliert entlang der Balkanroute in die EU ziehen.

Bei Rückführungen hat Österreich massiven Nachholbedarf. Wann beschleunigt Österreich die Rückführungen für jene, die nicht schutzbedürftig sind?

Die Innenministerin, der Außenminister und der Verteidigungsminister haben gesagt, bei den Rückführungen nun zuzulegen. Die EU wäre als Ganzes allerdings stärker. Hier muss man die Kommission aber stark kritisieren, sie verhandelt seit über einem Jahrzehnt Rückführungsabkommen mit nordafrikanischen Staaten und bringt kein Ergebnis zustande.

Erwarten Sie, dass die EU-Kommission die Klagsdrohung gegenüber Österreich wegen der Obergrenzen zurücknimmt?

Davon gehe ich nicht aus. Einen Rechtsstreit schließe ich daher nicht aus. Aber eines ist klar: Wir bleiben konsequent, und wir bleiben bei unserem Beschluss.

Bundeskanzler Werner Faymann hat eigentlich den Ruf, auf Konsens und Harmonie zu setzen – sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik. In der Flüchtlingsfrage verstand er sich mit seiner deutschen Amtskollegin Angela Merkel anfangs prächtig, plötzlich teilt er aber stark aus. "Ich lasse mir von niemandem etwas vorschreiben", sagte Faymann zuletzt beim EU-Gipfel in Brüssel. Und er will nicht, dass Österreich "das Wartezimmer für Deutschland" wird, "wir können nicht Hunderttausende aufnehmen".

Jetzt setzt Österreich auf eine Kurskorrektur mittels Obergrenzen. Das goutieren Berlin und Brüssel überhaupt nicht. Eine Lawine von Kritik überrollt seither die Regierung. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist "nicht einverstanden" mit dem Grenzzaun zu Slowenien und hat Österreich vorgeworfen, dadurch den Binnenmarkt zu zerstören. Die Obergrenzen findet die EU-Kommission illegal. EU-Ratspräsident Tusk sieht das österreichische Vorgehen gar "im Widerspruch zum europäischen Geist der Solidarität".

"Nicht mein Europa"

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel geht auf Distanz und hat für nationale Alleingänge wie jenen Österreichs nichts übrig. "Das ist genau das, wovor ich Angst habe: Wenn der eine seine Grenze definiert, muss der andere leiden. Das ist nicht mein Europa", sagte sie in der ARD-Talkshow von Anne Will.

Seit Mitte Jänner fährt Faymann eine härtere Strategie in der Flüchtlingspolitik. Er sucht nicht mehr die Abstimmung mit Merkel oder Juncker, schon gar nicht mit dem Griechen Alexis Tsipras.

Ist der Bundeskanzler nun auf einer Linie mit Viktor Orbán und den anderen Führern der Visegrád-Staaten? – lautet die bange Frage in den EU-Hauptstädten.

Faymann weist den Vergleich mit Orbán brüsk zurück: "Ich lasse mich nicht mit jemandem vergleichen, der keine Flüchtlinge nimmt, sie nicht ordentlich betreut und sie auch nicht in ein faires Verfahren bringt."

Berlin-Abstimmung

Anfang September 2015 handelte Faymann im Gleichschritt mit Merkel. Er vereinbarte mit ihr die Öffnung der Grenzen für Tausende Flüchtlinge aus Ungarn, die Bahnhöfe und Autobahnen bevölkerten und die Orbán nicht aufnehmen wollte. Der Autokrat aus Budapest ließ hohe Grenzzäune im Süden des Landes errichten.

Monate später führte auch Österreich ein Grenzmanagement ein. Als "Notfallsmaßnahme", wie es Faymann nennt, "weil es keine europäische Lösung gibt, und darauf zu warten, wäre verantwortungslos", sagte er im KURIER-Gespräch (siehe Interview oben).

Eine andere Antwort auf den Kurswechsel des Kanzlers liefert sein ehemaliger Freund aus Athen: "Werner Faymann reagiert aus politischer Panik, und das wird nur die politische Rechte stärken", analysierte Premier Alexis Tsipras. Der Linke hat nicht ganz Unrecht. Beide Koalitionsparteien, SPÖ und ÖVP, haben mit schlechten Umfragewerten zu kämpfen – während die FPÖ von der Flüchtlingskrise profitiert und bei den Wählern zulegt.

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