30 Jahre danach: Wie sich Tschechien und Slowakei friedlich trennten
Mitten auf dem zentralen Platz von Bratislava (Pressburg) – im Volksmund „Stalinak“ genannt – steht ein großer Sarg auf einem eigens errichteten Podium. Er trägt die Aufschrift „Federácia“. Mit ihm wird genau um Mitternacht die tschechisch-slowakische Föderation symbolisch zu Grabe getragen. Am 1. Jänner 1993 existiert die Tschechoslowakei nicht mehr, auf der Europakarte werden zwei neue Staaten eingetragen – die Tschechische und die Slowakische Republik.
Der Jubel der Pressburger auf den Straßen hält sich in engen Grenzen. Obwohl Bands musizieren, will keine Stimmung aufkommen. Unsicherheit hängt in der Luft. Der berühmte Schauspieler Marián Labuda steht im Publikum. Tränen kullern ihm über die Wangen. Er will die Trennung nicht wahrhaben.
„Heimat verloren“
„Auch ich war gegen die Trennung, vor allem aus Angst, dass die nationalen Kräfte, die die Zerschlagung der Tschechoslowakei betrieben hatten, die Slowakei politisch in Richtung Osten steuern“, sagt Magda Vášáryová, die letzte tschechoslowakische Botschafterin in Wien, 30 Jahre später zum KURIER. „Ich habe damals meine Heimat verloren. Ich wollte nicht, dass Václav Havel nicht mehr mein Präsident und Milan Kundera oder Jaroslav Hašek nicht mehr Teil meiner Kultur waren“, bedauert die Slowakin Vášáryová bis heute.„Es dauerte Jahre, bis ich mich daran gewöhnt hatte.“
74 Jahre, 2 Monate und drei Tage lang lebten Tschechen und Slowaken in einer gemeinsamen Republik – vereint auch durch das kommunistische Joch, das jedes Aufmucken im Keim erstickte. Mit der Samtenen Revolution von 1989 brach dann die Ära der Demokratie herein. Und die Slowaken nutzten die neue Freiheit, um aufzubegehren. „Mehr Eigenständigkeit.“ – „Genug vom Prager Zentralismus“ – „Wir ziehen immer den Kürzeren“. Mit solchen Parolen machten Separatisten Stimmung.
Streit um Bindestrich
Die wirtschaftlich etwas bessergestellten Tschechen wiederum hatten genug davon, die Slowaken mitzufinanzieren. Die Konflikte wurden immer heftiger. Nicht einmal auf einen Staatsnamen konnten sich beide Seiten verständigen: Tschecho-Slowakei mit oder ohne Bindestrich. Streitigkeiten ohne Resultate und ohne Ende. Nach den Parlamentswahlen im Sommer 1992 wurde die Scheidung unausweichlich. In Böhmen und Mähren gewann die neoliberale Demokratische Bürgerpartei (ODS) von Václav Klaus. In der Slowakei setzte sich die Partei des links-nationalen Populisten Vladimír Mečiar durch.
Tschechen und Slowaken wollten in gegensätzlichen Staats- und Wirtschaftssystemen leben. Die Kluft zwischen den beiden slawischen Völkern – mit unterschiedlicher Mentalität und Geschichte (die Slowaken gehörten in der Donaumonarchie zu Ungarn), Tradition und Küche (Knödel kontra Erdäpfel) – wurde sichtbar. Eine Regierungsbildung war unmöglich, die Verhandler konnten sich nicht einmal auf die Staatsform einigen.
Die Parteichefs trafen einander auf halbem Weg zwischen Prag und Bratislava in Brünn, in der Villa Tugendhat. Mečiar kam mit dem Vorschlag einer lockeren Konföderation, nur noch Währung und Armee sollten gemeinsam bleiben. Dann lieber ein Ende mit Schrecken oder etwas Ähnliches mag sich der erfahrene Václav Klaus gedacht haben. Er setzte die komplette Trennung durch. Der Presse wollte er die Zerschlagung der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik (ČSFR) aber nicht mitteilen. Der sonst öffentlichkeitsliebende Politiker Klaus überlies die unpopuläre Rolle seinem slowakischen Pendant. Schließlich trat Mečiar vor die Journalisten und wurde ausgepfiffen.
Die meisten Tschechen und Slowaken reagierten empört, weil sie nicht gefragt worden waren. Sogar die Verfassung sah für einen solchen Fall ein Referendum vor. Laut Umfragen hätte der Erhalt der ČSFR gute Chancen gehabt. Spontan wurden Aktionen für den gemeinsamen Staat gestartet. Auf dem Wenzelsplatz in Prag sammelten Aktivisten mehr als eine Million Unterschriften. Vergebens.
Geteiltes Vermögen
Der Rosenkrieg nach der Scheidung hielt sich im Rahmen. Das Staatsvermögen wurde im Verhältnis 2:1 unter den zehn Millionen Tschechen und fünf Millionen Slowaken aufgeteilt. Diplome wurden gegenseitig anerkannt, die Studenten durften beim jeweils neuen Nachbarn gratis studieren. Ein heikles Thema waren die Staatssymbole: Da die alte tschechische rot-weiße Fahne mit der polnischen ident war, erklärten die Tschechen die bisherige tschechoslowakische Fahne kurzerhand zur tschechischen.
PKW-Produktion
Die Angst vor einem Kollaps der slowakischen Wirtschaft hat sich nicht bewahrheitet. Nach dem Ende der Rüstungsindustrie setzten die Slowaken auf die Pkw-Produktion. Drei Autokonzerne – Kia, VW und Peugeot – siedelten sich im Land an und brachten einen gewissen Wohlstand. Trotzdem hat Tschechien wirtschaftlich die Nase vorne, zahlt höhere Löhne und hat halb so viele Arbeitslose.
Nach den Spannungen der Anfangsjahre sind die bilateralen Beziehungen heute besser denn je. Die umstrittene, aber letzten Endes friedliche Trennung wird als mögliches Vorbild für andere Staatengebilde gepriesen.
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