1968: Das traumatische Ende des Prager Frühlings

Prag 1968
Die Folgen des Einmarsches am 21. August 1968 wirken bis heute nach. KURIER-Autorin Jana Patsch teilt ihre Erfahrungen.

Politisch unverdächtiger kann ein Name kaum sein: Die Umwelt heißt in den 60er-Jahren die Zeitschrift der slowakischen Akademie der Wissenschaften. Doch im Schicksalsjahr 1968 mutiert das interdisziplinäre Blatt zur politischen Plattform.

Mit voller Kraft unterstützt es die Reformpolitik von KP-Chef Alexander Dubček, die als „Prager Frühling“ in die Geschichte eingehen wird.

Initiiert wird dieser Schwenk der Redaktion von der Wissenschaft zur Politik vom Arzt und Wissenschaftler M. M.: Er ist überzeugter Kommunist, der an die Reformierbarkeit des Sozialismus glaubt. Ich lerne ihn in der Redaktion der Umwelt kennen, wo ich mir als Studentin erste Sporen verdiene.

Am 21. August 1968 werden wir jäh aus unseren politischen Träumen gerissen. Truppen des Warschauer Pakts besetzen die Tschechoslowakei.

Brutale Wirklichkeit

Einige Wochen lang leisten wir noch friedlichen Widerstand und schreiben offene Briefe gegen die Okkupation. Doch bald erkennen wir die brutale Wirklichkeit an.

Im Herbst wird die Redaktion der Umwelt ausgewechselt. M. M. wird aus der KP ausgeschlossen, was auch das Ende seiner wissenschaftlichen Karriere bedeutet. Der Familienvater findet Unterschlupf in Mähren, wo er als kleiner Beamter in einer Hygiene-Station arbeitet.

Ich gehe ins Exil nach Österreich.

„Normalisierung“

In der Tschechoslowakei beginnt die sogenannte „Normalisierung“ – eine Periode der Finsternis und des moralischen Verfalls, die erst mit der Samtenen Revolution im November 1989 endet.

Die neuen Machthaber machen sämtliche Reformen rückgängig. Als erste Maßnahmen werden die Zensur und eine lückenlose Überwachung eingeführt. Die Reisefreiheit wird gestrichen bzw. auf Ostblockstaaten begrenzt.

Die Politik habe wieder den Prinzipien des Marxismus-Leninismus zu folgen, heißt es. In der Praxis bedeutet das eine Re-Stalinisierung. Es beginnt politischer Terror: So wie M. M. werden 327.000 Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen. Hunderttausende verlieren ihren Job.

Eine der begehrtesten Stellen unter den gefeuerten Regime-Gegnern ist die des Heizers: „Trocken, warm und genug Zeit zum Lesen.“

Vielen Jugendlichen wird das Studium verwehrt. Etwa 100.000 Tschechen und Slowaken kehren ihrer Heimat für immer den Rücken. Vor allem junge, gut Ausgebildete packen ihre Habseligkeiten. Eine Tragödie für das Land und seine Menschen. Viele Familien werden für immer zerrissen, viele Ehen gehen kaputt, weil einer der Partner die Situation im Exil nicht meistert.

1968: Das traumatische Ende des Prager Frühlings

KURIER Mittagsausgabe 21. 8. 1968

Die Befindlichkeiten der Flüchtlinge beschreibt Milan Kundera – selbst ein Emigrant – meisterhaft in seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“.

Der Prager Frühling und seine Niederschlagung sind mehr als eine Episode der Geschichte. Die Folgen wirken bis heute nach. Die erzwungene Anpassung in der Zeit der „Normalisierung“ hat das moralische Rückgrat der Gesellschaft beschädigt.

Wirtschaftliche Folgen

Nicht weniger nachhaltig waren die ökonomischen Verluste durch die Beibehaltung der Planwirtschaft. In den Jahren bis 1989 nicht entsprechend ihrer Qualifikation arbeiten zu dürfen, beschert vielen Menschen heute winzige Pensionen.

Statt eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie ihn Alexander Dubček wollte, bekommen die Tschechen und Slowaken ab August 1968 einen „Sozialismus mit Gänsehaut“ – eine Anspielung auf Präsident Gustáv Husák, dessen Name übersetzt Gänserich bedeutet.

Ich gehöre zu den wenigen Emigranten, die in den dunklen Jahren in ihre alte Heimat reisen dürfen. Mein österreichischer Ehemann hat mich „freigekauft“, indem er offiziell die Kosten für mein Studium in der ČSSR zurückzahlte.

Vor jedem Besuch muss ich viel auswendig lernen, denn ich habe für Freunde und Bekannte Nachrichten zu überbringen. Sämtliche Telefonate in den und aus dem Westen werden abgehört, die Korrespondenz wird zensuriert.

Ich darf mir keine Notizen machen, denn an der Grenze werden alle Papiere – sogar Putzerei-Zettel – peinlich genau inspiziert.

Treffen mit Verwandten

Ich helfe auch, Treffen von Exilanten mit ihren Verwandten zu organisieren. So rufe ich aus Bratislava die Mutter meines Wiener Freundes an, die in Nordböhmen wohnt, um ihr zu sagen, dass Josef in zwei Wochen nach Linz fahren wird.

Die verschlüsselte Nachricht bedeutet, dass ihr Sohn Jarda sie in 14 Tagen im ungarischen Györ treffen möchte. Es ist anstrengend, all die Decknamen, Orte und Termine nicht durcheinanderzubringen.

Der tschechoslowakische Geheimdienst StB hat überall Mitarbeiter – an jedem Arbeitsplatz, in jedem Plattenbau, sogar in vielen Familien.

In meiner Familie ist es ein angeheirateter Onkel, wie wir erst nach seinem Tod erfahren. Er bespitzelte uns, um Karriere zu machen. Auch Geistliche der katholische Kirche arbeiten für den StB. Viele Menschen ziehen sich ins Private zurück.

Verhasste Besatzer

Während der Jahre der „Normalisierung“ sind sowjetische Einheiten in der ČSSR stationiert. Wie viele es sind, weiß niemand. Beim Abzug im Juni 1991 wird ihre Zahl mit 73.500 Mann und mehr als 50.000 Angehörigen angegeben.

Das Verhältnis der Tschechen und Slowaken zum slawischen Brudervolk bleibt nachhaltig beschädigt. Aus den einst bejubelten Befreiern im Mai 1945 wurden verhasste Okkupanten.

Charta 77

Anfang 1970 beginnt sich vor allem in Tschechien Widerstand gegen die „Normalisierung“ zu formieren, der in der Folge zur Gründung der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 führt.

208 namhafte Persönlichkeiten unterschreiben eine Petition, die Missstände in der ČSSR aufzeigt. Vaclav Havel, einer der Initiatoren, ist im Land kaum bekannt.

Die Partei-Bonzen halten eisern an ihrer „Normalisierung“ fest. Erst nach dem Fall der Berliner Mauer gehen die Tschechen und Slowaken mit Schlüsselbunden in der Hand auf die Straße.

Die Samtene Revolution beginnt am 17. November 1989 und beschert mir ein Wiedersehen nach mehr als 20 Jahren: M. M., der ehemalige Spitzen-Wissenschaftler und geachtete Autor, der zum niederen Beamten degradiert wurde, steht auf dem Redner-Podium in Bratislava.

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