Wien und das Weltkulturerbe: Nach oben denken

Ein Blick über Wien mit dem Rathaus und anderen Gebäuden unter einem bewölkten Himmel.
Wien streitet wieder über das Weltkulturerbe. Mit der Schönheit des neuen Bauens kann man hier immer noch nichts anfangen.
Georg Leyrer

Georg Leyrer

Die Welt ist zuletzt schrecklicher geworden – und als Resultat wird sie, für jeden von uns, kleiner werden. Der Krieg macht Mobilität schon jetzt empfindlich teurer, bevor der Klimawandel das noch einmal tun wird. Und auch die Kosten der Pandemie, die auf die kommenden Generationen zukommen, verengen den Raum des eigenen Lebens.

Das ist, wider die scheinbare weltgeschichtliche Bedeutungslosigkeit, für das Leben der Menschen keine kleine Sache. So ist es kein Wunder, dass ausgerechnet jetzt der Streit ums Wiener Weltkulturerbe wieder aufflammt: Die Nerven liegen auch dann blank, wenn es „nur“ ums Bild jener Stadt geht, in der man halt lebt.

Wien ist, wie könnte es anders sein, eine unordentliche Stadt: Der Blick von oben offenbart Dächer-, Fassaden-, Verkehrs-, Planungswildwuchs, der anderswo – in echten Weltstädten – undenkbar ist.

Ein Blick über die Dächer von Wien mit dem Stephansdom in der Ferne.

Und zugleich eine Feigheit, die sehr spezifisch für hier ist: Längst sind die Stadtsäume geprägt von den Türmen hoch langweiliger Investorenarchitektur. Mit der Schönheit des heutigen Bauens nach ganz oben aber kann man in Wien nichts anfangen. Der Stempel „Weltkulturerbe“ dient hier als wunderbarer Vorwand für die Verhinderung von allem, das im Kern der Stadt aufzeigt, herausfordert, in eine Richtung – nach oben! – weist. Man hat quasi die internationale Erlaubnis, beim Bauen im „es war immer schon so“ und im „früher war alles besser“ zu verharren.

Nachfragen lohnt!

Denn das Welterbe kommt von einer obersten Obrigkeit, die noch obriger ist als unsere Obrigkeit, und da salutiert man hierzulande lieber als nachzufragen.

Dabei lohnte sich das! Denn entgegen der Befehlsergebenheit, die ihm entgegengebracht wird, ist das Prädikat „Weltkulturerbe“ keine Offenbarung, kein Gesetz oder Richterspruch. Sondern etwas sehr Zeitverhaftetes, das längst ein Update benötigte: Nach Kriterien, die in den 1950er Jahren etabliert wurden, wird eine Stadt an einem völlig willkürlichen – und teils fiktiven – Moment eingefroren. Wie gehört eine Stadt, wann ist sie fertig? Diese Frage ist eigentlich nicht zu beantworten. Das Weltkulturerbe sagt: vor 100 Jahren. Warum aber, das sagt es nicht.

Vielleicht ist es Zeit für ein Ende

Und man stelle sich den Bahöö vor, wenn die Stadt schon dieses Siegel getragen hätte, als die halbe Innenstadt abgerissen wurde, um neue Pracht- und Prunkbauten und eine neue Straße zu bauen. Die Ringstraße, es hätte sie nie gegeben.

Vielleicht ist es an der Zeit, diese Kette bewusst abzustreifen. Nicht, um ein bestimmtes, misslungenes Projekt zu bauen. Sondern aus Rücksicht darauf, was eine Stadt ist: ein lebendiger Organismus nämlich. Aber der Tourismus, heißt es dann, der lebt davon. Weit gefehlt: Der Verlust brächte keine nennenswerten Einbußen, sagen Touristiker unter der Hand. Wien ist Wien auch ohne Weltkulturerbe.

Porträt eines Mannes mit Brille vor einem grauen Hintergrund mit dem Schriftzug „Kurier Kommentar“.

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