Die Katastrophe in Afghanistan hat uns klar vor Augen geführt, wie rasch Gipfelerklärungen, Kongressprotokolle und Rahmenabkommen als Papiertiger entlarvt werden, wenn die realen Probleme der Menschen nicht gelöst werden. In Afghanistan und seinen Nachbarländern wird es in den nächsten Jahren noch viele reale Probleme zu lösen geben: von einer anrollenden Flüchtlingswelle bis zum Drogenanbau‚ den die Taliban schon bei ihrer letzter Machtergreifung forciert haben.
Dialog mit den Taliban
Während also nun der Westen in wenigen Tagen seine Evakuierungen beenden wird und sein diplomatisches Personal vor den Taliban in Sicherheit bringt, rollen jetzt russische Flüge nach und aus Afghanistan an. Moskau macht deutlich, dass es nicht nur seine Botschaft in Kabul im Regelbetrieb belässt, sondern auch, dass man bereit ist, den Dialog mit den Taliban zu beginnen. Die ehemaligen Sowjetrepubliken in der Nachbarschaft Afghanistans werden wohl auch im Gespräch mit Moskau ihre Rolle in der kommenden Krise finden.
Die Gesetze der Realpolitik lauten also, dass man an Russland in Afghanistan nicht vorbeikommt. Und das gilt nicht nur für Afghanistan. Ob es um den Umgang mit dem Iran und seinem Atomprogramm, die wachsende Instabilität am Balkan, oder aber um die Energieversorgung Europas geht, der größte Flächenstaat der Erde spielt unweigerlich eine Rolle. Und diese Rolle wird umso gefährlicher und unberechenbarer, je weiter man sich von Russland distanziert und es auf der weltpolitischen Bühne in die Ecke stellt.
Aus Moskauer Sicht
Was von vielen im Westen als russische Aggression betrachtet und gefürchtet wird, ist aus Moskauer Sicht nur eine Gegenreaktion, notwendige Verteidigung gegen Gefährdung der eigenen Existenzgrundlagen. Die Besetzung der Krim etwa – Teil Russlands seit Katharina der Großen – war aus Moskauer Sicht nur eine Antwort auf die Bedrohung der dortigen russischen Bevölkerung. Man muss Russlands Vorgehen – nicht nur auf der Krim – nicht gutheißen, die dahinter liegende Motivation aber zu begreifen, macht es sicher leichter, mit dem angeschlagenen Riesen in unserer Nachbarschaft Realpolitik zu machen, anstatt ihn zu dämonisieren. Russland in die Isolation zu treiben, macht es zum unkalkulierbaren Gegner. Ihm auf Augenhöhe zu begegnen macht es zu einem Partner für die Realpolitik, die wir gerade jetzt so nötig haben.
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