Der Traum von Europa endete im Flüchtlingslager
Wie einen Talisman hält Ali die Visitenkarte umklammert, die er den österreichischen Reportern zeigt. „Walter Fachkraft“ lässt sich darauf entziffern. Es ist die Firma, für die der Iraker vier Jahre lang in Deutschland gearbeitet hat.
Dann aber ist er in den Irak zurückgekehrt, wegen seiner kranken Mutter, wie er sagt. Ja, und jetzt, jetzt steht er hier am Zaun des Flüchtlingslagers in Litauen gleich hinter der Grenze zu Weißrussland. Von dort ist Ali vor fünf Wochen gekommen. Nach Deutschland will der 36-Jährige wieder zurück, und sein siebenjähriger Sohn, der jetzt neben ihm steht, soll mit. Im Irak, da gebe es für ihn keine Zukunft.
Alis Geschichte ist nur eine der vielen komplizierten Lebensgeschichten, die man in dem Lager unweit der Hauptstadt Vilnius zu hören bekommt. Gemeinsam aber haben sie alle eine – die bisher letzte Station: Weißrussland. Der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko hat vor zwei Monaten damit begonnen, Flüchtlinge, meist aus dem Irak, direkt in sein Land zu holen und von dort über die Grenze zu schleusen.
Migration als Druckmittel gegen die EU, die Weißrussland mit Sanktionen belegt hat. Litauen, das bisher nie nennenswerte Flüchtlingszahlen verzeichnet hatte, war von dem plötzlichen Ansturm von ungefähr 4.000 Menschen überfordert und rief die EU-Mitgliedsländer zu Hilfe.
Österreich reagierte rasch. Ein Dutzend Cobra-Beamte ist inzwischen hier an der Grenze im Einsatz. Innenminister Karl Nehammer ist deshalb an diesem Dienstag hier zu Besuch und hat auch noch 50 Wohncontainer für die Flüchtlinge mitgebracht. Die EU dürfe sich von einem Diktator „nicht erpressen lassen“, erklärt der ÖVP-Politiker und ärgert sich zugleich ziemlich deutlich über Brüssel, das „in Aufnahmezentren statt in Grenzschutz“ investiere.
Austro-Minister am litauischen Grenzzaun zu Belarus
Litauen investiert sehr wohl in den Grenzschutz, 200 Kilometer Zaun sind bereits gebaut, in einem Jahr soll die ganze 600 Kilometer lange Grenze zu Weißrussland gesichert sein, mit Geld von der hier so heftig kritisierten EU. Und diese Grenze, so betont auch Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg, „ist auch unsere Grenze“. Es sei unerträglicher Zynismus, dass Lukaschenko, „Migranten in Waffen verwandelt“.
Gleich neben Schallenberg demonstriert auch der litauische Außenminister Landsbergis Härte: Sein Land werde konsequent alle Migranten abschieben: „Jeder, der sich in die EU schleichen will, wird zurückgebracht“. Landsbergis schildert die Erfahrungen und Informationen seiner Behörde.
Die Flüchtlinge würden aus dem Irak oder Syrien nach Minsk eingeflogen und würden von weißrussischen Sicherheitsbeamten bis an die Grenze begleitet und dann hinübergeschickt. Viele wüssten nur, dass da drüben Europa sei: „Sie fragten, ob sie in Deutschland sind.“
Erbsen aus Dosen
Die Menschen, über deren Köpfe hinweg hier Politik gemacht wird, die also die neuen Waffen des weißrussischen Diktators sein sollen, stehen derweil mit müden Augen und Erbsen aus Dosen löffelnd vor den Zelten ihres Lagers. Bemühen sich, mit allen Fremdsprachen, von denen sie zumindest ein paar Worte beherrschen, von ihrer Flucht und von ihrer Hoffnung auf ein Leben in Europa zu erzählen.
2.500 Dollar für Flug
2.500 Dollar hat etwa Abdul Hamid aus Damaskus für diese Hoffnung bezahlt. Das war der Preis für den Flug von Moskau und den Weg über die Grenze.
Eine Quasi-Einladung des weißrussischen Diktators hat der syrische Telekom-Experte, der fließend Englisch spricht, dafür nicht gebraucht. Es gebe genügend Foren in den Sozialen Medien, auf denen ohnehin jeder Schritt einer möglichen Flucht diskutiert werde.
Alles verloren
Das Geld für die Flucht hat Abdul in Saudi-Arabien verdient, aber dorthin wolle er nie wieder zurück. Er wolle endlich wieder in einem Land leben, in dem man frei denken und reden dürfe.
Dass er dafür all das Geld und zuletzt sogar seine Schuhe verloren hat, das war ihm der Traum von Europa wert. Doch der endet voraussichtlich ziemlich jäh, hier im litauischen Grenzgebiet.
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