Siezen Sie noch, oder duzt du schon?
Als Anfang 40-Jährige habe ich ein ambivalentes Verhältnis zum Du. Wenn ich in einem hippen Lokal oder in einem trendigen Kleidungsgeschäft gesiezt werde, fühlt sich das an wie ein Stich in mein jugendliches Herz. (Ich bin doch eine von euch!) Würde man mich umgekehrt in einem Amt oder beim Arzt duzen, fände ich das auch unangemessen.
Ich habe noch gelernt, dass man ungefragt nur Familienmitglieder, Freunde und Kinder mit dem Du anspricht. In meiner Muttersprache Farsi (Persisch) werden mitunter ältere Verwandte und sogar die eigenen Eltern gesiezt – ein Zeichen des Respekts und der Höflichkeit.
Als Ikea angefangen hat, sich über alle Benimmregeln hinwegzusetzen und aus Prinzip einfach jeden zu duzen, war das anfangs noch ein Marketingschmäh. Doch der schwedische Stil hat die österreichische Etikette unterwandert, und so wird inzwischen selbst in der Werbung das Sie immer öfter gemieden. Da heißt es dann zum Beispiel: Jetzt Angebote sichern!
Im Englischen kennt man das Sie ja erst gar nicht. Mit you wird oberflächlich einfach jeder angesprochen und mit den immer inflationärer eingesetzten Anglizismen wird sogar in der sonst eher steifen Wirtschaft das Du unter Wildfremden immer cooler.
Cool ist das Sie nur noch in wenigen Situationen. Zum Beispiel beim Schimpfen. Nicht, dass ich unflätige Verbalattacken befürworten würde. Aber wenn Verkehrsteilnehmer einander Ausfälligkeiten an den Kopf werfen, verleihen sie ihren Worten eine zusätzliche Prise Verachtung, indem sie ihr Gegenüber Siezen.
Spannend finde ich die Ansprache auch immer bei Ihren Mails, liebe Leser. Da erreicht mich die ganze Bandbreite von offiziellen Ansprachen (Sehr geehrte Frau Docekal) bis zum vertrauten Hallo Laila! – man kennt sich ja vom Lesen, zumindest einseitig. Manche drücken sich überhaupt nur per Emoji aus. Schade finde ich nur, wenn jemand die Ansprache ganz weglässt. So viel Etikette darf dann schon sein.
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