Wie man eine Demokratie demontiert - und Europa dabei zusieht

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
Gerade noch hoffte Europa auf den Partner Türkei – und sieht jetzt einmal mehr hilflos zu, wie Erdoğan seine Allmacht zementiert.
Ingrid Steiner-Gashi

Ingrid Steiner-Gashi

In Stalins Sowjetunion kursierte der Spruch: „Zeig mir den Mann, und ich finde das passende Verbrechen.“ An dieses Motto scheinen sich Erdoğan-treue türkische Staatsanwälte willfährigst zu halten. Seit Jahren versuchen sie dem populären Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu ein ganzes Bündel von Vergehen anzuhängen – von Beamtenbeleidigung bis hin zur Korruption. 

Jetzt, nachdem der gefährlichste politische Rivale von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in U-Haft sitzt, lesen sich die Vorwürfe, als handle es sich bei dem 53-jährigen Oppositionspolitiker um den größten Schurken des Landes: „Leiter einer kriminellen Organisation“, Terrorverbindungen und noch Vieles mehr.

Dass der türkische Autokrat dreist versucht, seinen Konkurrenten für die nächsten Präsidentenwahlen los zu werden, überrascht nicht. Doch die Kaltblütigkeit, mit der der türkische Präsident nun İmamoğlu und mit ihm noch Hunderte Parteigänger aus dem Weg räumen lässt, ist selbst nach Erdoğan-Standards ein unerhörter Angriff auf das, was der starke Mann vom Bosporus von Demokratie noch übrig gelassen hat. 

Das politische Drehbuch

Hunderttausende Türkinnen und Türken gehen seither auf die Straßen, protestieren für die Freilassung İmamoğlus und gegen Erdoğans „Die-Türkei-bin-ich-Gehabe“. Aber die traurige Wahrheit ist: Verhaften und wegsperren gehört zu Erdoğans politischem Drehbuch, zahlreiche Bürgermeister und kurdische Politiker sitzen seit Monaten und Jahren im Gefängnis. 

Der nächste, der Angst haben muss, ist der ebenso populäre Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas.

Wortreiche Mahnungen

Hat Erdoğan dieses Mal übertrieben, werden ihn die Proteste stoppen, gar stürzen? Danach sieht es vorerst nicht aus, und auch aus dem europäischen Ausland kommt außer wortreichen Mahnungen nichts, was den türkischen Staatschef wirklich kümmern müsste.

So sehr der EU-Beitrittskandidat Türkei die Prinzipien von Demokratie, Freiheit und Pluralität verletzt, so sehr wissen die empörten EU-Regierungschefs auch, dass Europa auf die Türkei als Partner nicht verzichten kann. Erst recht nicht in Zeiten, wo US-Präsident Trump den Europäern in puncto Sicherheit zunehmend die kalte Schulter zeigt.

Abhalten einer weiteren Flüchtlingswelle? Mögliche Friedenstruppen für die Ukraine? – Alles nicht machbar ohne das Wohlwollen der Türkei, der nach den USA zweitstärksten Militärmacht in der NATO. 

Europa braucht die Türkei heute mehr denn je, zumal sich der Kontinent geostrategisch gegen Russland aufzustellen versucht. Wirtschaftlichen Druck gegen Ankara wird es daher ebenso wenig geben wie das endgültige Aus der türkischen EU-Beitrittsgespräche. 

Und Warnungen aus den USA? Fehlanzeige: Es ist das Amerika Donald Trumps, das Autokraten in aller Welt glauben lässt, sie könnten sich alles erlauben.

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