Zwei Jahre nach Jahrhundert-Beben in der Türkei: Wie lebt es sich auf Trümmern?

Vor dem 6. Februar 2023, da habe sich seine Familie keine Sorgen um Geld machen müssen, erzählt der 28-jährige Burak Moroğlu. "Wir waren in einer sehr guten finanziellen Situation, hatten ein zweistöckiges Geschäft für Reinigungsmittel", so der junge Mann. Das verheerende Beben in den frühen Morgenstunden dieses Tages aber hat alles verändert. Buraks Familie hat alles verloren.
Es sind einzelne Momente, an die man sich bei solchen Katastrophen wohl besonders erinnert. Burak weiß noch, dass er keine Schuhe anhatte, als er in der Kälte draußen vor den Trümmern stand. Und dass er sich zum Weinen immer ins Auto gesetzt hat.
Schutt und Rohbauten
Burak lebt in der Gemeinde Nurdağı in der südtürkischen Provinz Gaziantep. Sie gehört zu den am schwersten von dem Erdbeben betroffenen Gebieten in der Türkei. 60.000 Menschen lebten hier vor dem Beben. Über 53.000 Menschen starben in der Türkei, Berichten zufolge allein 10.000 in Gaziantep. Etwa drei Millionen Menschen mussten ihre Häuser verlassen; über eine halbe Millionen Gebäude wurden beschädigt. Nach wie vor leben über eine halbe Million Menschen in Containern.
In Nurdağı dominieren riesige Schuttfelder das Stadtbild, dazwischen halbfertige Rohbauten oder Häuser, die auf den Abriss warten. Warum dauert der Wiederaufbau so lange? Keine bevorstehenden Wahlen, die es zu gewinnen gibt, sagen die einen; fehlende Baugenehmigungen und hohe Materialkosten, sagen die anderen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die Aufbauarbeiten als die "größte Baustelle der Erde" bezeichnet.
Doch selbst wenn es genügend neue Wohnungen gäbe, wären sie für viele unleistbar. Denn ohne Arbeit lässt sich auch kein vergünstigter Kredit, den es vom Staat gibt, abbezahlen.
Ähnlich wie beim jüngsten Hotelbrand in einem türkischen Skiressort mit 78 Toten gab es auch nach dem Beben den Vorwurf, Bauvorschriften seien umgangen worden. Dieser richtet sich auch an Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der den Staat auf sich ausgerichtet hat. Lokale Verantwortungsträger wurden festgenommen, ein Bauunternehmer wurde zu 17 Jahren Haft verurteilt.
Die Überlebenden vor Ort sind nach wie vor auf Hilfe angewiesen, etwa vom Türkischen Roten Halbmond, der Schwesterorganisation des Roten Kreuzes. Seine Aufgabe ist heute nicht mehr die akute Versorgung, etwa mit Lebensmitteln. Für viele geht es nun um die allerersten Schritte zurück in ein eigenständiges Leben, eine eigene wirtschaftliche Existenz.

Die Regierung hat in Nurdağı eine neue Kommerzanlage errichtet, sie wirkt in der zerstörten Umgebung beinahe fehl am Platz.
1.870 Euro für Neubeginn
Burak steht inmitten eines kleinen, rosa Geschäftskomplexes in Nurdağı. Die von der Regierung errichtete, neue Kommerzanlage wirkt in der zerstörten Umgebung beinahe fehl am Platz. Der Mann zeigt stolz auf die Auslage hinter ihm, in der sich Wasch- und Putzmittel, Besen und Reinigungszubehör fein säuberlich aneinanderreihen. Die Ausstattung des Geschäfts war nur mittels Hilfe des Roten Halbmonds möglich. Der vergibt Hilfszahlungen an Klein- und Mittelunternehmen, um Ware zu kaufen oder ein Geschäftslokal auszustatten. Oft sind es Basics, an denen das Gefühl von ein bisschen Normalität scheitert: "Die Ware hatten wir noch, aber keine Regale, um sie auszustellen. Alles lag einfach in Haufen am Boden herum", schildert Burak. 50.000 Türkische Lira, umgerechnet 1.340 Euro, hat er vom Roten Halbmond bekommen.
Die 38-jährige Elmas Demirci steht inmitten von Kartons voller Çay-Gläser, Teller und anderen Küchenutensilien, die sich bis zur Decke hoch stapeln. Es sei nicht ganz so wie ihr altes Geschäft vor dem Erdbeben, sagt Elmas, aber zumindest ein erster Schritt. 70.000 TL, rund 1.870 Euro, hat sie erhalten.
Die Förderung des Roten Halbmonds ist an Bedingungen geknüpft: Sie bekommt, wer vor dem Beben ein Geschäft besessen, noch keine Förderung von einer anderen Hilfsorganisation bekommen hat und die Notwendigkeit gegeben ist – also niemand anderer in der Familie Geld verdienen kann.
Auch landwirtschaftliche Betriebe werden unterstützt. Vor dem Beben waren die elf betroffenen Regionen für rund 50 Prozent der landwirtschaftlichen Erzeugnisse in der Türkei zuständig, zehn Prozent der Wirtschaftsleistung wurden hier erwirtschaftet. Nach Angaben des Türkischen Roten Halbmonds wurden bisher über 4.600 Betriebe und 3.600 Landwirtschaften unterstützt. Insgesamt profitierten über 540.000 Haushalte von Bargeldprogrammen.
Jetzt warten Elmas und Burak nur noch auf Kunden. An diesem Tag bleiben sie aus. Denn wie den beiden fehlt es auch dem Großteil der Menschen nach wie vor an Einkommen, das ausgegeben werden kann.

"Den Menschen wird wieder etwas Hoffnung gegeben. Und eine gewisse Entscheidungsfreiheit und Eigenständigkeit", sagt Roter Halbmond-Mitarbeiter Alperen Zengin.
Routine und Alltag
Trotzdem werden derartige Projekte als essenziell gesehen, um den Menschen Alltag, Routine und eine Beschäftigung wiederzugeben – und einen eigenen Raum abseits der Container-Städte. "Es geht auch sehr um die psychologische Wirkung einer solchen Ermächtigung. Den Menschen wird wieder etwas Hoffnung gegeben. Und eine gewisse Entscheidungsfreiheit und Eigenständigkeit. Das ist bedeutend", sagt Roter Halbmond-Mitarbeiter Alperen Zengin.
Burak hat den Container zwar schon wieder hinter sich gelassen, lebt mittlerweile wieder in einer Wohnung, weiß aber auch, dass der Kredit irgendwann fällig sein wird. Er blickt auf seine schwarzen, abgetretenen Schuhe. Sie sind voller Staub von dem Schutt, in dem Nurdağı liegt.
Hinweis: Die Reise wurde vom KURIER und dem Österreichischen Roten Kreuz finanziert.
Spendenkonto Österreichisches Rotes Kreuz: IBAN: AT57 2011 1400 1440 0144. Kennwort: Erdbeben Türkei und Syrien
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