Das ist nicht der Weltkriegsbeginn

Die geopolitische Lage ist ohne Zweifel extrem angespannt. Kurz zusammengefasst: Eine Allianz aus Russland, China, Iran und Nordkorea versucht, die geopolitische Vorherrschaft der USA zu brechen, zahlreiche andere Staaten warten auf ihre Chance. Und die Europäische Union ist mit sich selbst beschäftigt. In einer solchen Lage können überhastete Entscheidungen verheerende Effekte auslösen, die im schlimmsten Fall in eine globale Katastrophe münden. Die Entscheidung der USA, der Ukraine die Freigabe des Einsatzes von ATACMS-Raketen mit einer Reichweite von 165 Kilometern zu erteilen, gehört mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht in die Kategorie „überhastet“.
Derzeit deutet alles darauf hin, dass der Einsatz der ATACMS-Raketen nur auf die Region Kursk beschränkt ist, wo sich etwa 50.000 Soldaten aus Russland und Nordkorea anschicken, die ukrainischen Streitkräfte zurückzudrängen. Den militärischen Sinn der Kursk-Operation einmal beiseitegelassen: Etwa 10.000 nordkoreanische Soldaten kämpfen mittlerweile aufseiten Russlands, seit bald einem Jahr lässt der Kreml die Ukraine auch mit nordkoreanischen Raketen bombardieren. Pjöngjang hat Russland mit mehr Artilleriemunition versorgt als die EU die Ukraine. Man stelle sich den Aufschrei in so manchen Lagern vor, wenn 10.000 NATO-Soldaten die Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg gegen Russland unterstützten.
Was werden die ATACMS nun am Schlachtfeld bewirken, wenn die Ukraine sie so einsetzen darf, wie derzeit bekannt ist? Zum einen sind sie streng limitiert, zum anderen würden sie den Vormarsch russischer und nordkoreanischer Truppen lediglich verlangsamen. Die russischen Streitkräfte hatten zudem viele Wochen Zeit, ihre Stützpunkte, Munitionslager etc. außerhalb des Radius’ zu verlegen. Mehr ist – so es bei der Limitierung bleibt – nicht zu erwarten. Das Weiße Haus ließ sich mit seiner Entscheidung monatelang Zeit. Wohl auch, um eine größere Eskalation abzuwenden.
Dass Gesprächskanäle zum Kreml bestehen, zeigen etwa die Gefangenenaustausche zwischen Russland und der Ukraine, der unbehelligte Abzug Zehntausender russischer Soldaten aus der Stadt Cherson im Herbst 2022 sowie die Gespräche beider Parteien über humanitäre Angelegenheiten in Katar. In puncto „humanitär“ fährt Wladimir Putin jedoch seit dem Wahlsieg Donald Trumps einen noch härteren Kurs als zuvor: Allein am Wochenende ließ er mehr als einhundert Raketen und Dutzende Drohnen auf die ukrainische Energieinfrastruktur feuern. Die russischen Angriffe entlang der Front haben drastisch zugenommen und zeigen – trotz massiver Ausfälle – Wirkung. Auch das dürfte einer der Gründe für die Freigabe gewesen sein, die die schlechte Verhandlungsposition der Ukraine etwas verbessert.
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