Militärexperte über Ukraine-Krieg: "Wir sind hier einem parasitären Pazifismus verfallen"
Seit 1.000 Tagen wird um die Ukraine gekämpft. Militäranalyst Franz-Stefan Gady geht mit Europas Politikern hart ins Gericht - auch in puncto Neutralität wäre für ihn ein Umdenken gefragt.
Seit 1.000 Tagen führt Putin Krieg gegen die Ukraine, seit 1.000 Tagen sterben Menschen für ihn. Nachdem US-Präsident Joe Biden der Ukraine am Sonntag doch noch seine Erlaubnis gab, amerikanische Langstreckenraketen gegen weit entfernte Ziele in Russland einzusetzen, wächst in Europa die Angst vor einer Eskalation.
Politikberater und Analyst Franz-Stefan Gady, einer der profundesten Kenner der Lage in der Ukraine, macht in seinem neuen Buch wenig Hoffnung darauf, dass die Welt nach dem Ende dieses Krieges eine bessere wird. Ein Gespräch darüber, was sich ändern müsste – und ob die Politik auf ihn hört.
KURIER: Am Sonntag gab US-Präsident Biden der Ukraine offenbar die Erlaubnis, amerikanische Langstreckenraketen gegen Ziele in Russland einzusetzen. Ist das die von vielen befürchtete Eskalation?
Man muss den militärischen Nutzen dieser sogenannten Präzisions-Waffensysteme objektiv bewerten. Zum einen ist von diesen Raketen nur eine limitierte Anzahl vorhanden. Zudem haben sich die russischen Streitkräfte schon darauf eingestellt.
Seit die Ukraine vor zwei Jahren erstmals die amerikanischen HIMARS-Systeme mit kürzerer Reichweite einsetzte, haben die Russen ihre Kommandoposten besser befestigt und ihre Logistik auseinandergezogen, um weniger lohnende Ziele zu bieten. Außerdem verfügen sie über gute elektronische Abwehrsysteme.
Also ist es für den Kriegsverlauf vielleicht gar nicht so relevant?
Es ist selbstverständlich eine wichtige Entscheidung. Ich habe immer gesagt, dass diese Restriktionen keinen Sinn machen. Aber man muss sehen: Es geht hier vor allem um Angriffe auf die Region Kursk - und dabei hauptsächlich darum, die nordkoreanischen Verbände zu zerschlagen.
Dieser Krieg weitet sich also nicht auf den gesamten russischen Raum aus. Aber natürlich ist schon alleine die Möglichkeit, weit entfernte Ziele angreifen zu können, für die Ukraine ein Chip auf dem Verhandlungstisch, sollte es tatsächlich 2025 zu Friedensverhandlungen mit Russland kommen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, auch nach einem Ende des Ukraine-Kriegs gebe es keine Rückkehr in die gute, alte friedliche Zeit. Warum?
Die meisten Kriege basieren auf Fehlkalkulationen. Und wir befinden uns gerade in einer Ära der Fehleinschätzungen, und zwar auf drei Ebenen: Zum einen haben wir das Verständnis dafür verloren, warum Kriege überhaupt stattfinden. Wir können nicht mehr nachvollziehen, welche Motive Staatschefs oder politische Akteure dazu bringen, Kriege zu beginnen.
Wir unterschätzen die Irrationalität von Politikern?
Ja. Die Akteure selbst verfallen zudem oft der Fehlannahme, dass moderne Technologie Kriege weniger blutig macht – und man sie so schneller gewinnen kann. Das führt zu einem Kriegsoptimismus, der dazu verleitet, Konflikte militärisch statt diplomatisch zu lösen. Das ist die zweite Ebene.
Und die dritte?
Die betrifft die USA. In den Vereinigten Staaten gibt es keinen Konsens mehr über die eigene Rolle in der Welt. Man will nicht mehr Weltpolizist, globaler Sicherheitsgarant für viele Teile der Welt sein, das betrifft besonders Europa. Die USA werden so unberechenbarer, speziell unter einem Präsidenten Trump.
Das ist zwar noch kein Isolationismus, schwächt aber die Fähigkeit der USA, abzuschrecken und so Kriege zu verhindern: Potenzielle Gegner können sich verkalkulieren, was die Reaktion der USA betrifft, und das erhöht wiederum das Risiko für Kriege. Wer sich nicht sicher ist, ob die USA anderen Staaten zur Hilfe eilen, greift leichter an.
Es gibt aber auch die, die sagen: Trumps Unberechenbarkeit kann abschrecken. Seine Ansage, den Krieg schnell zu beenden, kann Moskau auch als Drohung verstehen – verhandelt Putin nicht, gibt es mehr Waffen für Kiew.
Für mich ist das Versprechen eher ein Zeichen dafür, dass die USA sich unter Trump so schnell wie möglich aus diesem Krieg herauslösen wollen. Das heißt zwar nicht, dass die militärische Unterstützung für die Ukraine unmittelbar eingestellt würde, Trump würde so ja ein Druckmittel verlieren. Aber langfristig ist ein Ausstieg das Ziel.
Gibt es einen konkreten Plan?
Es gibt keinen klar ausformulierten Plan, nur zwei denkbare Szenarien, über die seine Verbündeten gesprochen haben. Trumps Vize J.D. Vance favorisiert einen eingefrorenen Konflikt entlang der jetzigen Frontlinie, die Ukraine müsste Territorien abtreten. Sicherheitsgarantien gäbe es keine, die Ukraine müsste sich neutral erklären. Das wäre schnell gemacht, Amerika hätte keine Verpflichtungen.
Das zweite Szenario stammt von Ex-Außenminister Mike Pompeo, der der Ukraine eine langfristige Perspektive geben und sie an den Westen binden will, mit NATO- und EU-Mitgliedschaft. Nach einem Waffenstillstand müsste Abschreckung aufgebaut werden, gemäß dem „Israel-Modell“: Die USA rüsten die Ukraine konventionell – nicht nuklear – hoch, um Russland von weiteren Angriffen abzuhalten. Pompeo wird aber nicht der neuen Regierung angehören.
In beiden Varianten sind die USA aber keine klassische Garantiemacht mehr wie in Westdeutschland oder Südkorea. Und bei der ersten Variante sind die Chancen sehr groß, dass es schnell zu Nachfolgekriegen kommt.
Wer die Ukraine jetzt schnell in einen Frieden zwingt, wird bald neue Angriffe erleben. Russland nützt das nur als Pause, um sich neu aufzustellen, und wird wieder versuchen, sich die Ukraine einzuverleiben.
Was bedeutet das für Europa?
Im Geheimen haben Planungen stattgefunden, wie man mit einer neuen Präsidentschaft Trumps umgehen muss. Wir sind besser vorbereitet als 2016, aber die Krisen sind akuter als damals. Und es hakt an der Lösung der Probleme: Ich will nicht mehr hören, dass Trumps Wahl ein „Weckruf“ für uns sein müsste. Diese Rhetorik bringt nichts.
Ich wünsche mir konkrete Pläne, Finanzierungen und Zeitlinien für Nachrüstung, Kapazitäten- und Fähigkeitensteigerung. Ich wünsche mir auch eine langfristig angelegte strategische Kultur, die quer über Europa gelegt ist – die entsteht nicht durch Rhetorik.
Ein Lichtblick ist die Steigerung der Artillerieproduktion, die steigenden Wehretats sind positiv. Das größte Problem in den nächsten Jahren ist aber die Personalfrage.
Sie schreiben, dass Deutschland militärisch eine führende Rolle in Europa übernehmen sollte. Doch ausgerechnet die Bundeswehr hat größte Probleme, Personal zu rekrutieren, noch immer gehen mehr Soldaten in Pension als neu hinzukommen.
Hier muss eine ehrliche Debatte geführt werden. Ich halte die Wiedereinführung einer teilweisen Wehrpflicht für den einzigen Weg, um adäquate Reserven zu kreieren. Das Freiwilligenmodell hat ausgedient, um Deutschlands Verpflichtungen innerhalb der NATO zu erfüllen.
Politisch ist das Thema Aufrüstung aber umkämpft. Die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht sprechen von „Kriegstreiberei“, und die Wähler laufen ihnen zu.
Das ist eine Bildungsaufgabe, es braucht eine politische Klasse, die das klar benennt. Dafür habe ich auch das Buch geschrieben, es soll als Handbuch für die politische Führung dienen. Wir können uns nicht mehr auf die USA verlassen. Nur durch die USA konnten wir diesem parasitären Pazifismus, diesem falschen Friedenstraum verfallen.
Selbstverständlich will jeder Frieden, aber Frieden braucht Anstrengung, und er kostet etwas. Die politische Klasse muss davon überzeugt werden, und die muss wiederum die breite Bevölkerung überzeugen.
Es ist nicht die Aufgabe der Politik, dem Volk aufs Maul zu schauen, sondern die Probleme zu lösen, die Europas Sicherheit gefährden. Auch Österreichs Sicherheit steht und fällt mit Europas Sicherheitsarchitektur, und die ist in starker Bedrängnis durch den brutalen Angriffskrieg in der Ukraine.
Das klingt, als wäre Pazifismus ein Sicherheitsrisiko.
Ja – Pazifismus erhöht die Wahrscheinlichkeit für Kriege. Potenziellen Aggressoren wird damit nur vermittelt, dass kein Widerstandswille da ist. Eine gesunde Sicherheitspolitik setzt sich aus einer klugen Außenpolitik und einer Verteidigungspolitik bestehen, die konventionelle Abschreckung ermöglicht. Nur die Kombination aus Dialog und Abschreckung ermöglicht es, den Frieden zu erhalten.
Auch wir werden vom Ausland als sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer gesehen. Hört man in Wien auf Sie?
Die Entscheidungsträger hier haben in den letzten Jahrzehnten kaum mit sicherheitspolitischen Fragen umgehen müssen. Unsere militärische Sicherheit haben wir an die NATO ausgelagert, auf europäische Ebene waren wir nicht gewillt, einen größeren militärischen Beitrag zu leisten. Da muss ein Umdenkprozess beginnen.
Seit 2022 hat aber eine steile Lernkurve in manchen Teilen der Politik stattgefunden. Aber das ist noch nicht genug. Wir müssen zur Überzeugung kommen, dass die Neutralität, so wie sie der Bevölkerung vermittelt wird, nicht stimmt und uns nicht schützt. Man muss den Menschen ehrlich sagen, was Neutralität kann und was nicht.
Ich plädiere nicht für ein Ende der Neutralität, aber wir brauchen eine stark bewaffnete Neutralität, die uns wirklich schützt.
Franz-Stefan Gady: „Die Rückkehr des Krieges“, Quadriga Verlag, 365 Seiten. Im Fachhandel um 25.50 Euro erhältlich.
Was braucht es denn, um Österreich „verteidigungsfähig“ zu machen?
Das lässt sich pauschal nicht sagen, weil es stark von den Bedrohungsszenarien abhängt. Den Aufbauplan 2032 des Bundesheers halte ich für gut; wenn danach der nächste kommt, sind wir auf einem richtigen Weg. Das größte Problem in Österreich ist aber die Personalfrage, wie auch in Deutschland.
In der nächsten Regierung muss es eine Debatte über eine Verlängerung des Wehrdienstes und einer Wiedereinführung von verpflichtenden Milizübungen geben. Alle militärische Ausrüstung nützt nichts, wenn wir nicht genügend ausgebildetes Personal dafür haben.
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