US-Raketen für die Ukraine: Was das für den Krieg gegen Russland bedeutet
Die USA liefern trotz massiver Warnungen seitens des Kremls nun doch Langstreckenraketen. Eine kleine Zeitenwende. Der KURIER beleuchtet die Hintergründe.
Im letzten Abdruck also doch: Nur wenige Wochen vor seinem Auszug aus dem Weißen Haus gab US-Präsident Joe Biden dem monatelangen Drängen seines ukrainischen Amtskollegen Wolodimir Selenskij nach – und lässt nun doch Langstreckenrakete liefern, die tief im russischen Hinterland zur Anwendung kommen sollen.
Ein später Meinungsumschwung, der Fragen aufwirft. Der KURIER hat die Antworten.
Welche Raketen sollen zum Einsatz kommen?
Zunächst geht es um Geschoße des Typs ATACMS (Army Tactical Missiles Systems). Von diesen gibt es zwei Varianten: Die Light-Version mit einer Reichweite von 165 km (um die geht es derzeit) und Systeme, die 170 kg Sprengstoff transportieren und eine Reichweite von 300 km aufweisen.
Bisher erlaubte das Weiße Haus Angriffe mit US-Waffen auf russisches Territorium nur im Falle der Verteidigung russischer Offensiven gegen die ostukrainische Stadt Charkiw. Und das „nur“ mit dem US-Raketenwerfersystem Himars, das bloß auf 80 Kilometer Reichweite kommt.
Was ist das strategische Ziel des US-Schritts?
Ukrainische Streitkräfte sollen in die Lage versetzt werden, entfernter gelegene russische Abschussbasen sowie Flugplätze, von denen Bomber aufsteigen, ins Visier zu nehmen. Außerdem sollen Munitions- sowie Tanklager unschädlich gemacht werden.
Kommt es nun zur großen Eskalation?
Militärexperten gehen trotz anderslautender russischer Rhetorik (siehe weiter unten) nicht zwingend davon aus. Es handle sich vor allem um eine weitere Maßnahme, um den Druck auf den Kreml zu maximieren.
Werden die neuen Raketen Kriegs-entscheidend sein?
Experten sagen, eher nein. Zum einen habe die russische Seite diese Entscheidung bereits antizipiert und wichtige militärische Infrastruktur noch weiter von der ukrainischen Grenze ins Hinterland verlegt. Zum anderen würden wohl nicht allzu viele ATACMS-Einheiten geliefert werden.
Allerdings dürfte der Schritt die Moral der Truppe heben, zumal im Osten, wo sie stark unter Druck steht. Und einen direkten Einfluss auf das Kriegsgeschehen könnten die neuen Raketen in der russischen Region Kursk haben.
Dort dürfte eine russische Offensive bevorstehen, um die von der Ukraine im Sommer handstreichartig eingenommenen Gebiete zurückzuerobern. Diese umfassen noch rund 600 Quadratkilometer und sind damit rund eineinhalb Mal so groß wie Wien.
Warum gab Joe Biden dem Drängen von Wolodimir Selenskij gerade jetzt nach?
Offiziell eben wegen der erwähnten russischen Offensive gegen Kursk. Dort ließ Kreml-Chef Wladimir Putin etwa 50.000 Mann zusammenziehen, darunter auch mindestens 10.000 nordkoreanische Soldaten. Vor allem das Eingreifen Pjöngjangs führte Biden offiziell als Hauptargument für seine Entscheidung an.
Doch dass Donald Trump ante portas steht und als US-Präsident ab 20. Jänner 2025 zugleich Commander in Chief sein wird, dürfte ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Der designierte Staatschef will laut eigenen Angaben Waffenlieferungen an die Ukraine stoppen oder zumindest reduzieren und Frieden erzwingen.
Die neue Feuerkraft soll jetzt dazu beitragen, dass Kiew bei etwaigen Verhandlungen aus einer Position der Stärke agieren kann.
Werden nun NATO-Staaten wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland nachziehen?
Im Fall des Vereinigten Königreichs und der Grande Nation ist dies durchaus vorstellbar. Sie könnten Kiew die Erlaubnis für ihre „Storm Shadows“- sowie „SCALP Missiles“-Raketensysteme geben, diese auch auf russischem Territorium einzusetzen (die USA müssten auch zustimmen). Diese Geschoße haben eine Reichweite von gut 250 Kilometern.
Was Deutschland anbelangt, ist es derzeit ausgeschlossen, dass die bis zu 500 Kilometer weit fliegenden Taurus-Raketen an Kiew geliefert werden (sie könnten auch Moskau direkt ins Visier nehmen). Noch-Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat das kategorisch verneint, sein grüner Koalitionspartner ist aber dafür. Ehe die neue Regierung nach den Neuwahlen vom 23. Februar 2025 steht, dürfte hier keine Entscheidung fallen.
Wie reagiert Russland?
Wladimir Putin hatte lange vor der jetzigen Biden-Initiative gewarnt, ein solcher Schritt werde von Moskau als Kriegseintritt der NATO-Staaten gewertet. Dementsprechend martialisch reagierte nun Wladimir Dschabarow vom Ausschuss für internationale Angelegenheiten des russischen Oberhauses. Er warnte vor einem Dritten Weltkrieg.
Präsident Selenskij reagiert nahezu sphinxhaft: „Angriffe werden nicht mit Worten geführt. Die Raketen werden für sich selbst sprechen.“
Wie reagiert das Trump-Team?
Der designierte Präsident Donald Trump hatte sich bis Montag Nachmittag zu den neuesten Entwicklungen noch nicht geäußert, sehr wohl aber sein Sohn Donald Trump jr. – und das äußerst deftig: „Der militärisch-industrielle Komplex scheint sicherstellen zu wollen“, schrieb der Junior auf X, „dass der Dritte Weltkrieg beginnt, bevor mein Vater die Chance hat, Frieden zu schaffen und Leben zu retten.“
Kommentare