Auf 175 Seiten haben sich die Wissenschafter an der politischen Rhetorik der Regierung, den gesetzten Maßnahmen und der Stimmung im Land abgearbeitet. Und insbesondere die Analyse der Impfpflicht verdient nähere Betrachtung.
Denn obwohl die Impfpflicht formal nur vier Monate galt und realpolitisch nie in Kraft trat, steht sie exemplarisch für vieles, was in der Covid-Politik daneben ging.
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Politik ist nie alternativlos
Da ist zunächst einmal der fehlende Wille an der politischen Auseinandersetzung: „Es gab im Vorfeld der Entscheidung (zur Impfpflicht, Anm.) keine strukturierte, plurale und ergebnisoffene Debatte“, heißt es trocken in der Aufarbeitung der Akademie. Soll heißen: Im Unterschied zu Deutschland oder der Schweiz, wo man öffentlich über die Impfpflicht stritt und sich später dagegen entschied, fixierte Österreichs Regierung diese europaweit einzigartige Maßnahme bei einem „nicht-öffentlichen Treffen“ der Landeshauptleute am Achensee. Über Nacht und de facto im Geheimen? Nein, so trifft man keine Entscheidungen, die verstanden werden.
Dass die Impfpflicht damals als „alternativlos“ bezeichnet wurde, hat den Vorgang übrigens nicht besser, sondern schlimmer gemacht. Politik ist nie alternativlos. Es gibt immer verschiedene Handlungsvarianten. Die Frage ist, welche ist klug, welche weniger; und ob Nicht-Handeln nicht fataler wäre.
Das absolut Schädlichste an der Impfpflicht war aber – und jetzt sind wir beim Kern des Problems – das anhaltende Moralisieren.
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Wenn Dialog verunmöglicht wird
„Die Zeit der Solidarität mit jenen, die sich aus fadenscheinigen Gründen nicht impfen lassen wollen, ist abgelaufen“, wetterte Tourismusministerin Elisabeth Köstinger im November 2021; Interimskanzler Alexander Schallenberg stimmte die Ungeimpften auf „ungemütliche Weihnachten“ ein.
Die Impfpflicht wurde damit zu einer „Erziehungsmaßnahme“. Und spätestens an diesem Punkt teilte die Regierung – bewusst oder nicht – die Bevölkerung in die solidarisch Guten und unsolidarisch Bösen. In einem moralisierenden „Gut-Böse“-Schema werden Dialog und Kritik fast unmöglich – dem jeweils anderen wird ja die schädliche Grundhaltung unterstellt.
Und wohin dieses Freund-Feind-Schema führen kann, zeigt sich auch auf der „anderen“ Seite, also bei den notorischen Wissenschaftsfeinden und Corona-Leugnern: Auch sie moralisierten ohne Ende, auch sie waren überzeugt, einen Kampf gegen das „schlechthin Böse zu führen“, wie die ÖAW festhält. Das besorgniserregende Ergebnis: Wer glaubt, er kämpft gegen das absolut Böse, hält fast alle Mittel für legitim. Bis hin zum Letzten: Gewalt.
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