Ein Programm widerspricht dem Zeitgeist

Ein Programm widerspricht dem Zeitgeist
Welche Konsequenzen das neue CDU-Programm für die ÖVP hat. Ein Gastkommentar von Thomas Köhler.

Selten in den letzten Jahren ist über Papier so diskutiert worden. Der extremen Rechten ist der Text zu links, der extremen Linken zu rechts. In Wahrheit vertritt das neue Grundsatzprogramm der Christlich-Demokratischen Union Positionen einer radikalen „Mitte“. Das erfordert eine Unterscheidung von „extrem“ und „radikal“. Die CDU versucht sie implizit wie explizit. Nicht immer gelingt es zur Genüge.

Was ihre sozialen, liberalen und konservativen Wurzeln (lat.: radices) betrifft, betont die CDU deren Balance. Das bedingt die Absage an ein Übermaß entweder des „linken“ oder „rechten“ Flügels, wie er die Mitte der Bewegung unter den Vorgängern von CDU-Vorsitzendem Friedrich Merz regelmäßig geschwächt hatte. Das schlechteste Ergebnis bei Wahlen in der Geschichte war die Konsequenz gewesen.

Mit solch starkem Zentrum nicht nur ein Viertel der Stimmen, sondern wieder ein Drittel oder mehr zu erreichen, ist das quantitative Ziel der Partei. Das qualitative Ziel besteht in der Vision einer „Heimat“, in der man „in Freiheit sicher leben“ kann.

Im Zeichen eines Verfassungspatriotismus tritt die CDU „Bedrohungen“ von innen oder außen „entschieden entgegen.“ Die Demokratie habe „wehrhaft“ gegen Feinde des Grundgesetzes zu sein. Aktuelle Beispiele des Bedarfs gibt es zuhauf.

Was sie von anderen Parteien mehr denn je fundamental unterscheidet: Die CDU unterstreicht, dass die „Würde des Menschen“ – die zugleich aus Menschenrechten und -pflichten besteht – von „Gott“ als Prinzip bzw. Regulativ des Gewissens ausgehe. Das heißt: Zusage an Säkularität (Trennung von Staat und Kirche) und Absage an Laizismus (Trennung von Politik und Religion)! Wird ihr das ein fanatischer (Un-)Zeitgeist dieser oder jener Richtung verzeihen?

Couragierter Betreiber einer „Attacke“ aus dem Zentrum gegen die extremen Ränder links und rechts ist CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Ebenso wie das Programm vertritt er als Person wirtschaftsliberale und gesellschaftskonservative Positionen zugleich. Das bindet die Mitte und bändigt die Flügel. Unter dem Motto eines „souveränen“ Deutschland gibt das Programm alternativen Modellen wie „Diversität“ oder „Identität“ wenig Spielraum.

Ein Programm widerspricht dem Zeitgeist

Thomas Köhler

Indes: Nicht nur die CDU, sondern auch die ÖVP war stets Programmpartei. Anders als die CDU ist die ÖVP heute jedoch nicht in der Opposition, sondern in einer Koalition. Das sind zwei – für den politischen Standpunkt entscheidend – vollkommen verschiedene Standorte der Politik zur Profilierung: Aus der Opposition argumentiert man pointierter als in einer Koalition.

Vielleicht aber werden ÖVP und CDU ihre Positionen bald tauschen! Wer aber wäre ein Carsten Linnemann der Volkspartei? Was bleibt, ist die gläubige und liebende Hoffnung der Christlichen Demokratie, der sich alle Mitglieder der Europäischen Volkspartei verschreiben: Pfingsten und seine Wunder kommen immer wieder ...

Thomas Köhler ist Geisteswissenschaftler und Hg. des „Jahrbuchs für politische Beratung“ (Edition mezzogiorno). Als Sekretär Buseks war er Teil der ÖVP-Programmkommission.

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