Das ist das Szenario in Deutschland. Österreich ist noch in einem weit größeren Ausmaß vom russischen Gas abhängig. Kalte Wohnzimmer und morgendliche Kaltwasserduschen sind dann aber unser geringstes Problem. Die heimische Industrie würde rasch – Experten meinen binnen Tagen – zum Stillstand kommen. Die Folgen sind aufgrund ihrer Komplexität nicht abschätz- oder gar berechenbar. Produkte der chemischen Industrie etwa stecken in so gut wie allen Dingen, Zigtausende neue Arbeitslose, Lieferengpässe bei Gütern des täglichen Bedarfs wären die Folge, Preissteigerungen, die über die derzeitige Inflation hinausgehen, im schlimmsten Fall kaputte Industrieanlagen, die man nicht einfach von einem Tag auf den anderen abschalten kann.
Die sozialen Folgen wären in so einem Fall dramatisch. Und daher ist all jenen, die jetzt ein einseitiges Embargo für russisches Gas fordern, eine klare Absage zu erteilen. Bundeskanzler Karl Nehammer könnte einem solchen Vorstoß im EU-Rat nie zustimmen, ebenso wenig wie der deutsche Kanzler Olaf Scholz. Beide würden einen derartigen Schritt mit so gravierenden Folgen im eigenen Land nicht erklären können und politisch nicht überstehen. Und sehr bald würde wohl auch die Solidarität der österreichischen Bevölkerung mit der Ukraine kippen, wenn die wirtschaftliche Katastrophe im eigenen Land eintritt. Die Zusage Putins an Nehammer, die Gaslieferverträge vorerst einzuhalten, ist daher schon für sich die Reise nach Moskau wert gewesen. Da kann ihm die Häme, mit der er überschüttet worden war, noch bevor er überhaupt in Moskau eintraf, herzlich egal sein.
Doch wie schon bei Corona ist die Zeit reif, über unsere Abhängigkeiten intensiv nachzudenken. Diese lassen sich nicht von heute auf morgen lösen. Und sie betreffen nicht nur Gas. Es geht um viele andere Produkte, die wir lieber billig in Asien produzieren lassen und die im Fall geopolitischer Verwerfungen, stecken gebliebener Frachtschiffe oder globaler Pandemien plötzlich sauteuer oder gar nicht mehr verfügbar sind. Europa ist zu abhängig und muss sich wieder zu alter, eigener Stärke aufschwingen. Das wird viel Geld, Arbeit und kluger Köpfe bedürfen. Aber dieses Ziel sollten wir wieder vor Augen haben: die wirtschaftliche Auferstehung eines Kontinents, der zuletzt träge geworden ist, über seine Verhältnisse gelebt und sich zu sehr auf alle anderen verlassen hat.
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