Wer einen Blick in die vor dem aktuellen EU-Gipfel verbreitete „strategische Agenda“ für Europa wirft, würde wohl gerne den Autoren eben diese Wiener Redensart zukommen lassen. Da werden doch tatsächlich ein „freies und demokratisches“, ein „starkes und sicheres“ und ein „wohlhabendes und konkurrenzfähiges“ Europa als Ziele der EU für die kommenden Jahre angeführt. Und damit das alles nur ja nicht zu kurz ausfällt, sind ein paar Seiten Wortgirlanden rundherum tapeziert.
Von hochrangigen EU-Diplomaten bekommt man auf Nachfrage zu hören, dass diese Agenda ohnehin nur eher Formsache sei und auf dem Gipfel von den Staats- und Regierungschefs wohl nur kurz am Rande diskutiert werde. Schließlich werde man die meiste Zeit dafür brauchen, um die Personalfragen, also die Besetzung der EU-Topjobs zu klären. Diese politisch ausgewogene Verteilung von Posten an der Spitze der EU ist ohne Zweifel wichtig und notwendig. Dass sich Rechtspopulisten an diesem „Postenschacher“ abarbeiten, ist nichts als der Versuch, billige Punkte zu machen.
Zukunftsfragen als Formsache
Dass man aber in Zeiten multipler Krisen die Debatte über strategische Zukunftsfragen zu einer Formsache degradiert, erzählt viel über den Zustand des EU-Rates und mit ihm der gesamten EU – und es ist nichts Gutes.
Ausgerechnet die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die befürchtete, Italien werde beim Machtkampf um die EU-Führung ausgebootet, erinnerte die EU-Kollegen an ihre eigentliche Aufgabe: Sollte man nicht zuerst der EU eine klare inhaltliche Ausrichtung geben, bevor man das Personal für diese Ausrichtung bestimme? Sie traf die Achillesferse der EU. Eine Union, deren mächtigstes Gremium keine klare Richtung vorgibt, verkommt zu einer übereifrigen und oft planlosen Fließbandproduktion von Gesetzen und noch viel mehr Absichtserklärungen. Strategisches Denken ist aber in Zeiten ganz konkreter globaler Herausforderungen für die westlichen Demokratien unverzichtbar.
Wer grundlegende Forderungen wie die Energiewende, die Reform der Agrarpolitik oder die Verteidigungsfähigkeit Europas nur als Schlagworte missbraucht und alles andere der bürokratischen Maschinerie in Brüssel überlässt, legt Europas Feinden einen Elfmeter auf – aber jetzt sind wir schon wieder bei einer Wiener Redensart.
Kommentare