Erwachsene sind um nix besser als Kinder

Viele Jugendliche flüchten täglich mehrere Stunden lang in virtuelle Scheinwelten. Aus gutem Grund.
Gert Korentschnig

Gert Korentschnig

Wer zuletzt in Großbritannien die Nachrichten verfolgte, kam an einem Thema nicht vorbei. Nein, nicht am Brexit – der hängt den Menschen auf der Insel mittlerweile zum Hals raus. Die Spitzenmeldung in den News-Sendungen der BBC und auf den Titelseiten so gut wie aller Tageszeitungen war eine andere: der Selbstmord der 14-jährigen Molly im Jahr 2017 und die nunmehrige Offensive ihres Vaters.

Dieser nannte einen Mitschuldigen am Suizid seiner Tochter: Instagram. Dieses soziale Netzwerk habe Molly durch seinen Algorithmus mit Postings konfrontiert, die selbstverletzendes Verhalten oder sogar Selbstmord glorifizieren. Daraus entstand eine Debatte über eine Verschärfung der Altersbeschränkung für Instagram-Nutzer und über Maßnahmen, solche schockierenden Bilder auf Handys der Minderjährigen zu verhindern.

Bei allem Entsetzen über diesen Fall wollen wir uns aber an diesem Sonntag vor allem mit grundsätzlichen Fragen beschäftigen. Wie groß ist mittlerweile der sozialmediale Druck auf unsere Kinder? Wie hat die Selfie-Kultur unsere Selbstwahrnehmung bzw. unser Image in der Öffentlichkeit verändert? Sind Äußerlichkeiten wirklich wichtiger als je zuvor? Können junge Menschen dem Bild, das sie mit Filtern versehen in die Welt schicken, selbst jemals entsprechen?

Die Antworten scheinen vordergründig einfach zu sein: a) enorm; b) gigantisch; c) ja; d) nein. Dahinter liegen aber noch ganz andere, tiefgreifende Probleme.

Blind für die Realität

Zum Beispiel die Frage nach der Gier, viele Likes, also hohe Zustimmung für seine Fotos zu bekommen. Kriegen wir die im realen Leben nicht ausreichend?

Oder die grundsätzliche Frage, was Schönheit heute ist. Das, was uns von Botox-Spezialisten oder von Handy-Filtern vorgegaukelt wird? Wo bleibt Individualismus?

Die Frage nach der Wahrnehmung der Welt. Warum gehen immer mehr Menschen mit Handysticks durch die Gegend und betrachten alles nur noch in Hinblick auf die Posting-Qualität? Sind wir blind geworden für die Realität und nur noch hellsichtig für die Illusion?

Vor allem aber auch die Frage nach den Gründen für den Eskapismus. Definitiv ist für junge Menschen der Druck in der Schule, aber auch im Freundeskreis, größer als für die Elterngeneration. Auch der Jobmarkt ist unübersichtlicher. Klar, dass viele in virtuelle Welten flüchten, dass sie versuchen, mit technischer Hilfe ein attraktiverer Mensch in einer lebenswerteren Umgebung zu sein.

Aus Erwachsenensicht gibt es jedenfalls keinen Grund, die Jugend von heute wegen ihres Umganges mit sozialen Medien gering zu schätzen. Erstens sind unzählige Eltern mit ihren Handys genauso verwachsen wie ihre Kinder. Zweitens sind sie es, die die Gründe für die Flucht liefern, vom politischen Scherbenhaufen bis zum fahrlässigen Umgang mit unserer Umwelt.

Die Erwachsenen von heute waren bzw. sind mindestens solche Narzissten wie ihre Kinder. Sie sind es, die ein ethisches Trümmerfeld hinterlassen. Der Letzte von ihnen dreht dann bitte das Handy ab.

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