Nun ist es freilich nicht klug, in Corona-Zeiten Fernreisen zu machen, darauf wird man sich rasch verständigen können. Aber eine Reisewarnung ist nicht automatisch ein Verbot. Und es soll Menschen geben, die beruflich reisen (müssen). Für eine Hetzjagd a priori besteht also kein Grund. Aber wen kümmert das schon in einer Zeit, in der Mitglieder der Neidgesellschaft gerne Kerkermeister des Lockdowns spielen. Man zeigt wieder verstärkt mit dem Finger auf den Anderen (Andersdenkenden, Anderslebenden) und beruft sich auf das größere Ganze. Die Blockwart-Mentalität lebt – das macht die Corona-Krise deutlich.
Aber wie soll man reagieren auf Lärm in der Nachbarwohnung, in der man eine Corona-Party vermutet? Wie begegnet man Mitmenschen, die Abstandsregeln nicht einhalten? Am besten mit Vernunft, mit direkten Gesprächen hinter der Maske. Am schlechtesten mit Denunzierungen am öffentlichen Pranger namens Internet. Wenn dort zum Beispiel Autos mit ausländischen Kennzeichen gepostet werden, sagt das zunächst einmal mehr über die Gedankenwelt der Poster aus als über die Autobesitzer.
Die Stadt Essen hatte im Herbst sogar ein Formular für anonyme Klagen über Verstöße bei Corona-Regeln eingerichtet – und musste das nach heftiger Kritik entschärfen. Auf sozialen Medien aber ist seit langem alles ungefiltert möglich. Nachdenken, ob die geäußerten Vorwürfe stimmen, muss man ja nicht, beim Klickprozess kann jeder Mitläufer mit einem Like Schöffe spielen. Und da das Netz nichts vergisst, hat der Angeklagte noch nach Jahren einen Schlechtpunkt. Geschieht ihm recht in der Facebook- und Twitter-Logik.
Eigentlich müsste man hoffen, dass das reale Leben nie so wird, wie das Internet ist. Leider sind wir auf dem besten Weg dorthin. Auch die Politik spricht von Gemeinschaft und im nächsten Atemzug von Abgrenzung. Mit Corona als Brandbeschleuniger haben wir, 100 Jahre nach der Spanischen Grippe, ein Jahrzehnt übersprungen: willkommen in den 30er-Jahren. Da war doch was.
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