Vier ausgeforschte Rädelsführer und zehn erwischte Täter wegen Verstößen gegen das Symbolgesetz waren die Bilanz. Sieben Polizisten und ein Diensthund wurden verletzt, ein kurdischer Journalist krankenhausreif geprügelt. "Es war eine in dieser Intensität bisher kaum bekannte Gewaltbereitschaft", sagte der damalige Innenminister Karl Nehammer über die Ausschreitungen.
Der türkische Botschafter Ozan Ceyhun wurde zum damaligen Außenminister Alexander Schallenberg zitiert. Der Verfassungsschutz begann in dem Fall zu ermitteln, die Staatsanwaltschaft Wien setzte eine eigene Sonderstaatsanwältin ein. Die Ausschreitungen beschäftigten Medien und Politik noch eine Weile. Verschiedenste Menschen ergriffen das Wort.
Lasst Brüder nicht kämpfen
"Aber niemand fragte die Jugendlichen“, erzählt Pamina Gutschelhofer, Sozialarbeiterin bei Juvivo 21. Für ihre Bachelor-Arbeit beschäftigte sie sich mit den Ausschreitungen und interviewte dutzende Jugendliche, die dort waren. Wie konnte es so weit kommen? Wieso waren überhaupt so viele Jugendliche dort? Welche Ideologien stecken dahinter?
Aus den Gesprächen entstand „Bro und Kontra – Lasst Brüder nicht kämpfen“ – ein Videoprojekt, das die Geschehnisse in Favoriten, inspiriert von den Erzählungen der Jugendlichen, die dort waren, durchleuchtet und aufarbeitet. Die Message des Projektes ist: Wir alle sind Brüder, egal ob Türken oder Kurden.
Passt. Aktion
Die Nachricht, die Cengiz, einer der Darsteller in dem Videoprojekt, bekam, ging an jenem Abend an viele. „In wenigen Stunden wurden bis zu 500 Menschen mobilisiert. Das ist zwar mit sozialen Medien kein großes Kunststück, aber ein Phänomen, dass uns noch nicht so oft begegnet ist“, analysierte der Landespolizeivizepräsident Franz Eigner die Geschehnisse.
„Es war extrem laut. Polizei. Hubschrauber. Es war überall Rauchgas. Irgendwann wurden wir all in einem Park eingekesselt. Dann hat die Polizei alle Ausgänge versperrt und die Hunde losgelassen“, erinnert sich Cengiz zurück. „Da hatte ich schon Angst“, gibt der Teenager zu. Aber er sei ja schnell. Ihn könne man nicht erwischen. Mit Bekannten floh er in die Wohnung eines Freundes in der Nähe. „In Favoriten brauchst du nur eine Person zu kennen. Dann kennst du alle anderen auch“, erzählt er. „Mich wundert es aber eigentlich schon, dass mich die Polizei nicht gefunden hat. Die haben doch Kameras überall?“, fragt er sich.
Cengiz ist auch an den zwei folgenden Krawallen in Favoriten noch mit dabei. Warum er nach dem ersten Tag noch weiter hingegangen ist? So richtig scheint er darauf keine Antwort zu haben. „Irgendwann wusste eigentlich niemand mehr, warum man überhaupt dort ist oder worum es geht. Keiner hat sich das gefragt“, sagt Cengiz. „90 Prozent von denen, die dort waren, waren wahrscheinlich wie ich. Und 10 Prozent wirklich aus Stolz dort.“
Auch bei der Sache mit der Schwester, der das Kopftuch heruntergezogen wurde, wisse bis heute niemand, ob das wirklich passiert sei. „Es gibt so viele Geschichten zu diesen Tagen“, sagt Atilla.
"Mit 13 war jeder ein Grauer Wolf“
Er und Mert bekamen die Nachricht ebenfalls. „Ich habe zuerst auch überlegt hinzugehen. Aber dann dachte ich mir: Nein, das ist voll unnötig, für sowas riskiere ich nicht mein Leben“, erzählt der mittlerweile 16-jährige Mert. „Ich wollte eigentlich hingehen. Wurde aber von einem Abi davon abgehalten“, sagt der 16-jährige Atilla. Abi steht im Türkischen für „älterer Bruder“. Verwandt muss man allerdings nicht unbedingt sein, um jemanden Abi zu nennen. Vielmehr steht der Begriff für eine ältere, männliche Person, der Respekt gebührt.Das kann jeder im Umfeld sein, zu der man aufsieht.
Das Wort „Abi“ fällt oft, wenn es um die „Grauen Wölfe“ (tr. Bozkurtlar“) geht. Cengiz, Mert und Atilla haben sich früher mit der extremistischen Ideologie identifiziert. „Mit 13 war jeder ein Bozkurt“, sagt Cengiz. „Aber da hat man auch keine Ahnung, was das bedeutet“, erzählt er. Für ihn hieß es einfach Türke zu sein. „Wenn ich jemanden kennengelernt habe, und er war auch ein Bozkurt, dann hieß es einfach: Passt. Ein Wort und man war befreundet“, so Cengiz. Die zwei anderen Burschen nicken als er das sagt. Mittlerweile wisse man, wie falsch das sei. „Wir hatten alle Abis, die uns irgendwann aufgeklärt haben“, sagt Atilla. „Nur Kinder unterstützen die Bozkurt. Und zu viel Nationalstolz ist auch nicht gut“.
“Tamam, Abi”
Ein Abi war es auch, der Cengiz’ Ausflug in Favoriten beendete. „Irgendwann am dritten Tag stand ich sicher mit so 20 anderen da. Und dann kam ein älterer Mann und sagte: Es reicht. Wir sollen jetzt alle nach Hause gehen. Einer sagte dann sofort `Tamam, abi` (OK Bruder) und dann gingen wir alle. Einfach so“, erinnert sich Cengiz zurück.
Für Fabian Reicher, Sozialarbeiter im Bereich der Ausstiegsarbeit für die Beratungsstelle Extremismus war es eine Situation, die zeigt, welche Dynamik bei vielen herrschte. „Wahrscheinlich hatten viele schon Zweifel, wollten nicht mehr dort sein. Aber sie wussten nicht, wie sie da rauskommen sollen. Und dann passiert so etwas, und man kann gehen, ohne dass man quasi sein Gesicht verliert“, erklärt Reicher, der ebenfalls bei „Bro und Contra“ mitwirkte.
In der Videoserie werden Gedanken von vielen verschiedenen jungen Burschen wiedergegeben. „Für einen war es etwa eine ganz große Angst, dass er von seinen Freunden ausgestoßen wird, wenn er nicht mitkommt“, sagt Gutschelhofer.
Die Videoreihe besteht aus vier Kurzclips. Der letzte Teil endet damit, dass der Protagonist draufkommt, dass der, gegen den er gerade kämpft, ein Freund von ihm ist. Dieser Teil des Videoprojekts ist fiktiv, aber deshalb nicht unrealistisch.
Mert, Atilla, Cengiz, die in Wirklichkeit anders heißen, haben übrigens alle drei neben türkischen auch kurdische Wurzeln.
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