Was wäre, wenn ich nicht “Flasche” sagen könnte? 

Was wäre, wenn ich nicht “Flasche” sagen könnte? 
Würde ich dann trotzdem Komplimente für mein tolles Deutsch bekommen? 

Können Sie sich daran erinnern, wann und wie Sie lernten, "Flasche" zu sagen? Also den Begriff für den Gegenstand auch verbal auszudrücken.  

Ich schon. Ich war um die drei Jahre alt und erst kurze Zeit im Kindergarten.  

Neben den beiden ungarischen Brüdern Patrik und Viktor waren mein Bruder und ich die einzigen "ausländischen Kinder" dort. Zu spüren bekam ich das aber nicht. Zumindest könnte ich mich daran erinnern. Was ich allerdings merkte war, dass ich nicht so viele deutsche Begriffe konnte wie die anderen Kinder. Denn bei uns Zuhause wurde nur Türkisch gesprochen. Ich wusste an jenen Tag, als ich beim Spielen Durst bekam, wie ich "Flasche" auf Türkisch hätte sagen können. Sie lag in meinem Pinguin-Rucksack in der Garderobe. Aber ich wusste nicht, wie ich fragen soll, ob ich meine "şişe" holen darf. 

Mein dreijähriges Ich musste sich was anderes einfallen lassen. Ich entschloss mich dazu, zu fragen, ob ich aufs Klo gehen darf. Zum einen wusste ich, wie ich das auf Deutsch sage, zum anderen lagen die Toiletten am Weg zur Garderobe. Der Plan war eigentlich gar nicht so schlecht – wäre ich nur nicht wieder mit einer Flasche zurückgekommen. Meiner Kindergärtnerin fiel das logischerweise auf. Sie fragte mich, wieso ich gesagt habe, ob ich aufs Klo gehen darf, wenn ich doch meine Flasche holen wollte? Wieso ich gelogen hatte? Ich antwortete, dass ich einfach nicht wusste, wie ich das auf Deutsch sagen sollte. 

Ich war mir sicher, dass ich jetzt Ärger bekommen würde. Doch sie wurde stattdessen sehr freundlich und sagte mit einer sanften Stimme, ich soll in Zukunft einfach sagen, wenn nicht wüsste, wie etwas auf Deutsch heißt. Das klang eigentlich logisch. 

Und so machte ich das wahrscheinlich auch. Vielleicht auch nicht. So genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Denn schon nach ein paar Monaten war es sowieso nicht mehr notwendig. Da war mein Deutsch schon so gut wie das der anderen Kinder. Und ein paar Jahre sogar besser als das der meisten anderen Kinder. 

Heute bin ich 25 und verdiene mein Geld als Journalistin in einem deutschsprachigen Traditionsmedium. Und den größten Teil meines Lebens werde ich jetzt schon gefragt, wieso mein Deutsch so gut ist. "Ich bin hier geboren und aufgewachsen, wieso sollte ich nicht gut Deutsch sprechen?", wurde dann irgendwann zu meiner Standard-Antwort und ein innerliches Augenrollen zur Gewohnheit. 

In letzter Zeit denke ich wieder und wieder über die Flaschen-Geschichte nach. Hätte sich mein Leben wohl anders entwickelt, hätte die Kindergärtnerin anders reagiert? Hätte es sich anders entwickelt, hätte ich mir anhören müssen, "später, in der Schule, wird nur Deutsch gesprochen"?  

Hätte es sich anders entwickelt, hätte jeder mein Deutsch angezweifelt, nur, weil Türkisch auch ein wertvoller Teil meines Lebens, meiner Identität ist? 

Würde ich dann wohl diese Zeilen schreiben? Und wann lernten Sie das Wort "Flasche"? 

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