Migrationsforscherin Kohlenberger: "2022 hat 2015 schon längst überholt"

Kulturwissenschafterin Judith Kohlenberger ist im burgenländischen Grenzgebiet aufgewachsen.
Judith Kohlenberger widmet sich in ihrem neuen Buch dem Thema Flucht - und was daran alles paradox ist.

Judith Kohlenberger ist eine der führenden Migrationsforscherinnen in Österreich. In ihrem neuen Buch "Das Fluchtparadox" beschreibt sie, warum das derzeitige Asylsystem unter vielen Widersprüchen steht, wieso man Flucht und Migration nicht mehr getrennt betrachten sollte und wie es um die Verantwortung Europas steht. Dem KURIER verriet sie auch, welche Sätze sie als Migrationsforscherin nicht mehr hören kann.

KURIER: Warum forscht eine weiße Europäerin, wie Sie sich in ihrem Buch selbst bezeichnen, eigentlich so leidenschaftlich zu Flucht und Migration? 

Judith Kohlenberger: Ich hatte meine persönliche Genese 2015, als ich an einer europaweit ersten Studie zu den soziodemografischen Hintergründen von Geflüchteten beteiligt war. Das war für mich eine Initialzündung, weil ich gemerkt habe, dass es Forschungs- sowie Aufklärungsbedarf gibt. Danach hab ich oft festgestellt, in einer privilegierten Situation zu sein, weil mir die Mehrheitsgesellschaft leider eher zuhört. Auch wenn hier zu betonen ist, dass ich niemals „für“ Geflüchtete sprechen kann. Zudem bin ich im burgenländischen Grenzgebiet aufgewachsen. Unmittelbar entfernt von meinem Heimatort ist die „Brücke von Andau“, über die beim Volksaufstand 1956 tausende ungarische Flüchtlinge kamen. Wenn man in einer Grenzregion aufwächst, merkt man, wie beliebig Grenzen manchmal sein können.

Sie schreiben in ihrem Buch, dass die Flucht paradox ist. Dass man Recht brechen muss, um zu seinem Recht zu kommen. Können Sie das näher ausführen? 

Das, was Sie jetzt ansprechen, ist das Asylparadox. Es beschreibt, dass es vor allem für Menschen aus Drittstaaten keinen anderen Weg gibt, in Europa Asyl zu beantragen, als illegal die Grenzen zu passieren. Das ist eigentlich ein Zirkelschluss. Es gäbe sehr wohl Instrumente, wie man das verhindern kann, nämlich Resettlement-Programme oder Botschaftsasyl, damit die Menschen schon im Herkunftsland den Asylstatus bekommen. Diese Instrumente werden aber derzeit kaum angewandt. 

Kommentare