Gibt es Good-Practice-Beispiele?
Ja, die gibt es. Es gab auch in Österreich bis vor gar nicht so langer Zeit Resettlement-Programme, durch die man unter anderem syrische Geflüchtete oder jesidische Frauen aufgenommen hat. Interessant ist, dass im türkisblauen Regierungsprogramm noch ein Kontingent vorgesehen war. Im türkisgrünen nicht mehr. Ich finde es schon bezeichnend, in welche Richtung der Trend geht, unabhängig davon, welche Farbe die Koalition hat.
Woher kommt dieser "Trend"?
Im jetzigen Regierungsprogramm ist Flucht und Asyl als „koalitionsfreier Raum“ definiert. Da kann man nur spekulieren, welches Tauschgeschäft an Zugeständnissen im Hintergrund stattfand. Aber auch die europäische Asylpolitik geht seit Jahrzehnten immer stärker in Richtung einer „3A-Politik“: Abschottung, Abgrenzung und Auslagerung. Man möchte Flüchtlinge möglichst fernhalten.
Ein oft genanntes Argument hier ist: Warum müssen Menschen überhaupt nach Europa kommen? Sicher seien sie auch in Nachbarländern ...
Dazu muss man sagen, dass über 70 Prozent der Geflüchteten weltweit ohnehin Zuflucht in Nachbarländern findet. Das passiert zurzeit auch mit Menschen aus der Ukraine. Polen oder Ungarn machen das, was Länder im globalen Süden seit Jahrzehnten machen. Dort hat eine dauerhaft unsichere politische Situation im eigenen Land aber oft auch Auswirkungen auf die Nachbarländer. Die Menschen sind teilweise dauerhaft dort untergebracht, aber in Unterkünften, die eigentlich nur temporär gedacht sind. Gleichzeitig wird man sich zunehmend die Frage stellen müssen, wie Menschen nicht nur überleben, sondern auch ein gutes Leben haben können. Das gesteht man Menschen im globalen Norden zu, Menschen aus Afrika aber nicht. Das ist eine scheinheilige Debatte. Dahinter steht nämlich eine viel größere Frage: jene der Verantwortung Europas mit Blick auf seine koloniale Geschichte. Weiterhin profitiert Europa auf vielen Ebenen von der Ausbeutung des globalen Südens. Nicht zuletzt deshalb, weil wir die meisten Emissionen erzeugen, die ersten Auswirkungen des Klimawandels aber im globalen Süden zu spüren sind.
Inwiefern wird uns die Klimakrise als Fluchtgrund in den nächsten Jahren beschäftigen?
Sämtliche Zahlen, die bis jetzt kursieren, beziehen sich nur auf Binnen-Geflüchtete. Ein Bericht der Weltbank etwa spricht von 216 Millionen Klima-Vertriebenen. Das gilt für Menschen, die innerhalb des Landes aufgrund klimatischer Veränderungen wandern mussten. Leider werden solche Zahlen oft zur Waffe im Kampf gegen den Klimawandel. Aktivisten argumentieren dann etwa, wir müssten den Klimawandel so weit wie möglich verhindern, damit all diese Menschen nicht zu uns kommen. In die Bedrohung durch den Klimawandel wird also die Bedrohung durch Flüchtlinge mit hineineinkalkuliert, ganz nach dem Motto der Bundesregierung: Grenzen und Klima schützen. Unabhängig davon, ob Klimawandel als Fluchtgrund jemals anerkannt werden wird oder nicht, ist er Realität. In Mali oder dem Sudan führt der Klimawandel zu mehr Konflikten um rarer werdenden Boden, was wiederum zu politischer oder persönlicher Verfolgung und somit zu Flucht führen können. Das ist zunehmend der Fall und wird auch ein Thema sein, das Europa beschäftigt.
In letzter Zeit lesen wir wieder vermehrt von steigenden Asylzahlen in Österreich. Wieso ist das gerade wieder Thema? Liegt das nur an dem Krieg in der Ukraine?
Klassischerweise versucht man mit diesem Thema politisches Kleingeld zu schlagen. Es gab einen Covid-bedingten Rückgang der Antragszahlen, weil Mobilität insgesamt stark zurückging. Dieser Rückstau wird jetzt abgebaut. Dadurch steigen natürlich die Zahlen wieder, vor allem aber auch, weil es durch vermehrte Grenzkontrollen zu mehr Aufgriffen und dadurch zu mehr Anträgen kommt – das Völkerrecht verbietet ja eine Zurückweisung. Auch die globale Sicherheitslage hat sich nicht verbessert, man denke etwa an den Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan. Menschen aus afrikanischen Herkunftsländern haben de facto keine Möglichkeit, legal nach Österreich einzureisen. Sie weichen auf die Asylschiene aus, was für keine Seite ideal ist.
Geflüchteter, Migrant, Wirtschaftsflüchtling: Diese Begriffe hört man oft. Was ist eigentlich der Unterschied?
Das sind künstlich geschaffene Kategorien, die rechtlich zwar wichtig sind. In der Realität aber gehen freiwillige Migration und unfreiwillige Flucht oft ineinander über. Selten gibt es nur einen einzigen Grund, warum sich eine Person auf den Weg macht, sondern die Entscheidung ist multikausal. Und da finde ich es zunehmend schwierig, dass wir die zwei Schienen, also reguläre Migration und humanitäre Aufnahme, weiterhin streng getrennt voneinander sehen. Das bildet nicht die Realität von Migrationsbewegungen ab. Deshalb würde ich dafür plädieren, sie zusammenzudenken, Spurwechsel zu ermöglichen. Da gibt es viele Konzepte in der Forschung, aber auch in der Praxis, wie etwa in Deutschland. Das müsste die Zukunft einer wirklich funktionierenden Migrationssteuerung sein.
In Ihrem Buch schreiben Sie auch vom Paradox, dass Geflüchtete Menschen mit einem erhöhten Schutzbedarf sind, von ihnen aber gleichzeitig erwartet wird, selbstständig zu sein. Was darf man von Menschen, die geflüchtet sind, erwarten?
Man kann natürlich durchaus beide Erwartungen haben, nur vielleicht nicht in einer Person vereinen. Die Frage ist also eher, wofür man sich entscheidet. Entweder will man die Schwächsten aufnehmen, also Frauen mit kleinen Kindern oder chronisch Kranke. Dann kann man aber nicht erwarten, dass sich ausgerechnet diese rasch in den Arbeitsmarkt integrieren oder besonders leistungsfähig sind. Sucht man letzteres, dann müsste man bevorzugt jene aufnehmen, die in Österreich niemand will: die jungen, fitten, alleinstehenden Männer am Beginn ihres Erwerbslebens. Das ist ein Widerspruch. Man müsste zumindest so ehrlich sein, diesen Widerspruch zu benennen und sich dann für eines zu entscheiden.
Gibt es einen Weg, wie man diesen Widerspruch beheben könnte?
Ich glaube, der erste Schritt ist, auf diese Widersprüche hinzuweisen. Das tue ich, aber das tun auch Flüchtlinge, indem sie ständig gegen diese Widersprüche arbeiten. Auch durch politischen Widerstand. Ja, sogar die Flucht selbst kann man als politischen Akt sehen. Und man kann versuchen, innerhalb dieser Paradoxien Räume schaffen kann, die widerspruchsfrei sind und einen Handlungskorridor eröffnen. Ich spreche in meinem Buch auch über Verantwortungsübernahme. Je widersprüchlicher die Bedingungen sind, desto stärker muss ich die Handlungen, die ich setze, argumentieren und verantworten können. Das Gegenteil passiert im Asylbereich. Man weist sämtliche Verantwortung von sich, etwa von der Landes- auf die Bundesebene oder vom Nationalen aufs Europäische. Und gerade jetzt, mit Blick auf Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel, wird man ohnehin früher oder später nicht darum herumkommen, einen anderen Migrationsdiskurs hierzulande zu schaffe.
Dann zur letzten Frage: Was können Sie als Migrationsforscherin nicht mehr hören?
Mein Lieblingssatz ist wohl "2015 darf sich nicht wiederholen". Auch wenn das provokant klingt: Eigentlich haben wir heuer das Jahr 2015 schon überholt. Wir haben 2022 bereits jetzt fast so viele Vertriebene aufgenommen, wie bis Ende des Jahres 2015 Asylanträge gestellt wurden. Was ich auch nicht mehr hören kann, ist der Begriff "illegale Migration". Das ist Unfug. Es ist unmöglich, legal einzureisen, wenn man gezwungen ist, erst auf dem Boden des Aufnahmelands Asyl zu beantragen.
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