Woran liegt das?
Es wird oft ins Treffen geführt, dass die Menschen, die aus der Ukraine kommen, uns geografisch und kulturell nahe stünden und die gleichen Werte hätten. Unmittelbar davor verhielt es sich ja so, dass die Fluchtbewegungen in unserer globalisierten Welt von immer weiter herkamen. Derzeit sieht man, dass die Aufnahmebereitschaft stark davon abhängt, wie zugehörig man die Menschen, die ankommen, empfindet. Im Moment wird betont: die Ukrainer, das sind wir, die gehören zum europäischen Wir. So als blickten wir in einen Spiegel, weil uns das auch passieren könnte. Dagegen galten syrische, afghanische Geflüchteten in den letzten Jahren als die ewig „Anderen“, die nicht hierher gehören, die nicht sind „wie wir“.
Erwarten Sie, dass die positive Stimmung anhält?
Ich bin da etwas abwartend. Es ist nicht gesagt, dass die Solidaritätswelle jetzt anhält. Ich fühle mich in manchen Aspekten an die Stimmung im Sommer und Frühherbst 2015 erinnert, als auch eine große Solidarität herrschte. Das hat sich dann irgendwann gedreht. Generell hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass selbst bei einer unmittelbaren geografischen Nähe die Solidarität und Aufnahmebereitschaft relativ rasch wieder abflachen können.
Gibt es dafür ein historisches Beispiel?
Das hat man zum Beispiel beim Ungarnaufstand 1956/57 gesehen. Historische Dokumente zeigen, dass es eine unglaubliche Aufnahmebereitschaft gab, aber in relativ kurzer Zeit dann doch auch Ressentiments gegen die ungarischen Flüchtlinge laut geworden sind. Das heißt, ein Mensch kann gar nicht so „kulturnah“ sein, dass man nicht irgendetwas findet, um ihn doch wieder fremder zu machen, als er eigentlich ist. Dass er dann doch wieder „der Andere“ ist.
Wie entstehen diese Ressentiments – etwa beim Beispiel Ungarn?
Anfangs meinte man, Österreich wäre nur ein Transitland. Nach und nach zeigte sicher aber, dass nicht alle in den Westen weiterzogen. Die Spuren dessen sieht man, wenn man heute ins Telefonbuch schaut. Natürlich ging es in der Geschichte der 2. Republik immer auch um die Größenordnungen der jeweiligen Fluchtbewegung. Und bis heute gilt: Kaum jemand will ein Asylheim unmittelbar in der eigenen Nachbarschaft.
Erkennen Sie in Österreich in den letzten 70 Jahren eine gewisse Kontinuität beim Umgang mit Flucht?
Obwohl es bisher nicht Teil der nationalen Erzählung ist, ist Österreich ein Aufnahmeland – auch aufgrund der geografischen Lage. Wir waren lange Zeit direkt vor dem Eisernen Vorhang, das Tor zum Westen. In letzter Zeit hat Österreich in immer kürzeren Abständen große Fluchtbewegungen bewältigt und viele Menschen aufgenommen. Trotzdem nehmen wir uns nicht als ein Land von Geflüchteten wahr oder als ein Land, in dem Fluchterfahrungen eine große Rolle spielen. Dabei sehen wir gerade jetzt, wie viele Menschen hier leben, die selbst oder deren Familien geflüchtet sind und sich bei den Bildern aus der Ukraine an ihre eigene Geschichte erinnert fühlen.
Umgekehrt sind in den 30er Jahren ja auch Menschen aus dem Täterland Österreich weg geflüchtet.
Auch das ist im nationalen Bewusstsein kaum präsent, die großen Fluchtbewegungen aus Österreich heraus. Dabei ist die Genfer Flüchtlingskonvention, also die rechtliche Basis, auf die wir uns bis heute beziehen, aus den Wirren des Zweiten Weltkriegs hervorgegangen. Viel mehr als bisher scheinen Österreicher gerade wahrzunehmen, dass dort festgehaltene Rechte, etwa, in einem anderen Land einen Asylantrag stellen zu dürfen, auch für sie selbst relevant werden können. Weil wir jetzt sehen, wie fragil der Frieden und die Sicherheit, in der wir aufwachsen, sind.
Das heißt, wir sind jetzt auch solidarisch mit der Ukraine, weil wir uns vorstellen können, das könnt hier auch passieren?
Das ist sicher ein Teil davon und auch zutiefst menschlich. Solidarität unterscheidet sich von reiner Barmherzigkeit auch dadurch, dass sie auf irgendeiner Form der Reziprozität, also Gegenseitigkeit beruht. Die Idee ist: Wenn ich mich solidarisch erweise, kann ich auch eine Form der Solidarität von anderen erwarten.
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