Zuhause in der ganzen Welt

Zuhause in der ganzen Welt
Besitz ist Ballast. Zumindest für Digitalnomaden. Sie entscheiden selbst, wann, wo und wieviel sie arbeiten. MICHAEL HOROWITZ über eine „Co-Living“-Plattform, bei der man weltweit wohnen kann.

Bruno Haid ist im tiefsten Ötztal aufgewachsen. In Hochgurgl. In einem idyllischen Bergdorf mit etwas mehr als 20 Einwohnern – aber 1.000 Hotelbetten. Seine Eltern betrieben eine Frühstückspension, das Haid-Wohnzimmer musste immer mit den Gästen geteilt werden.

Längst hat es den 38-Jährigen aus dem Ötztal hinaus getrieben. Obwohl er ein ziemlicher Spätzünder und eher konservativer Typ ist. Als neugieriger, abenteuerlustiger App-Entwickler, Programmierer und Grafikdesigner ist sein Zuhause längst die ganze Welt geworden. Bruno Haid ist einer der Digitalnomaden unserer Zeit. Bereits vor mehr als 50 Jahren hat der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan vorhergesagt, im elektronischen Zeitalter wird der Mensch zum nomadischen Informationssammler. Das Lebensziel der meisten Menschen – eine eigene Wohnung, ein eigenes Haus, das auf die persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten ist – ist nebensächlich: Für die Digitalnomaden ist die ganze Welt ihr Zuhause, an einen Bürojob, an Urlaub, den man Monate vorher anmelden muss, wollen sie nicht einmal denken. Sie entscheiden selbst, wann, wo und wieviel sie arbeiten.

Ist das die Zukunft des Arbeitens und Wohnens? Statt im Büro oder auf der Couch daheim kann man vor allem in Berufszweigen wie der IT-Industrie auch aus Bali oder Barcelona, Mexiko oder Myanmar arbeiten. Ungebunden sein, frei reisen und arbeiten ist das erklärte Ziel der Digitalnomaden. Der Lebensmittelpunkt wird verschoben, wie bei anderen die Zimmerpflanze. Besitz ist Ballast. Eigentum ist lästig, Teilen ist billiger und praktischer. Möbel und Autos sind längst abgestoßen. Allerdings auch soziale Bindungen. Freunde hat man bei Facebook, Instagram, Twitter & Co ...

Vor kurzem hat Bruno Haid, der ehemalige Bauernbub aus Hochgurgl, in New York ein neues Start-up gelauncht: Roam. Eine globale Co-Living-Plattform mit vorerst nur elf Mitarbeitern, bei der für die stolze Gebühr von 425 Dollar pro Woche oder 1.600 Dollar pro Monat Wohnräume auf der ganzen Welt gemietet werden können. Von Menschen, die ihre Arbeit von überall aus erledigen wollen und deren gesamter Besitz im Handgepäck Platz findet. Ein paar Klicks in einer App – und schon kann der Digitalnomade Monat für Monat an einen anderen Ort der Welt ziehen.

Bis jetzt gibt es Unterkünfte auf Bali, noch heuer folgen Miami und Madrid, London und Buenos Aires. Überall warten durchdesignte, eigene Schlafzimmer. Küchen und Bäder, die man allerdings mit anderen teilt. Und ein Schreibtisch in einem Gemeinschaftsbüro mit extrem rasantem WLAN.

Der Anteil fix angestellter Amerikaner, die schon heute von zuhause statt im Büro arbeiten, ist in zehn Jahren um 103 Prozent gestiegen. Vielleicht ist ihr nächster Wunsch, sich den unabhängigen Lebensstil der Digitalnomaden anzueignen. Bruno Haid ist optimistisch: Der Roam-Gründer glaubt, 1,2 Millionen Menschen kommen als Zielgruppe für sein weltweites Wohnprojekt in Frage. Mit einem Lebensstil, bei dem es nicht auf Besitz, sondern auf Selbstbestimmung ankommt.

Zuhause in der ganzen Welt
Metroverlag

Soeben erschienen:
Michael Horowitz
DIE WELT VON MORGEN
60 Visionen für ein besseres Leben
METROVERLAG 19,90 €


michael.horowitz@kurier.at

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