Soll mein Kind wiederholen, auch wenn es nicht sitzen bleibt?
"Noch einmal Glück gehabt", sagte eine gute Bekannte gestern zu mir. "Mein Sohn hat nur einen Fünfer im Zeugnis. Und da er aufgrund der Corona-Regelung heuer damit automatisch aufsteigen darf, muss er die Klasse nicht wiederholen."
Doch ist das tatsächlich ein Glück?
Ich habe da so meine Zweifel und denke an meine Freundin und ihren Sohn Lukas. Schon als der Bub noch im Kindergarten war, hatte sie das Gefühl, dass Lukas, ein Augustkind, eigentlich noch nicht schulreif ist. Doch die Kindergärtnerin meinte damals: "Das wächst sich aus." Also begann Lukas die Schule. Doch nichts wuchs sich aus. Der Bub plagte sich jedes Jahr – selbst als er in die Mittelschule wechselte, blieb für ihn das Lernen eine Herausforderung. Die Schule – Hausübungen, Schularbeiten und Tests – wurden zur Belastung für die ganze Familie.
Erst als Lukas in der 4. Klasse war, entschieden sich Eltern und Sohn gemeinsam, dass Lukas die Klasse freiwillig wiederholt. "Ich bin heute noch froh, dass wir uns dazu entschlossen haben. Lukas hat dieses zusätzliche Jahr gebraucht. Die Matura hat er heuer mühelos geschafft", freut sich seine Mutter mit ihrem Sohn Lukas. Am Ende ist dann also doch noch alles gut ausgegangen.
Doch nicht immer sind die Eltern so reflektiert, weiß Beate Simon, die eine Lerncoaching-Agentur betreibt (simon-coaching.at) und Eltern sowie ihre Kinder bei Schulproblemen berät. Aus Erfahrung weiß sie: "Viele Mütter und Väter haben ein bestimmtes Bild im Kopf, wie ihr Kind zu sein hat. Und das übertragen sie auf ihren Sohn bzw. ihre Tochter."
Unter Druck
Das Problem an der Sache: "Die Kinder spüren diesen Druck, den Eltern oft unbewusst ausüben – natürlich in bester Absicht, weil sie wollen, dass ihr Kind später einmal einen guten Beruf ausüben kann. Und die Kinder wollen ihren Eltern gefallen – sie strengen sich an, können aber die von ihnen erwartete Leistung nicht bringen." Das setze dann einen Teufelskreis in Gang. Die Kinder würden es den Eltern recht machen wollen, "verlieren aber an Selbstbewusstsein, weil sie ständig scheitern – und sacken in der Leistung noch mehr ab."
Was rät sie also Eltern, die sich jetzt fragen, ob ihr Kind die Klasse am besten wiederholen soll oder nicht? "Diese Frage lässt sich natürlich immer nur individuell beantworten", sagt Beate Simon.
Grundsätzlich gelte aber: "Lösen Sie sich von ihren eigenen Vorstellungen und hören Sie auf Ihr Kind. Stellen Sie sich die Frage, was das Beste für Ihr Kind ist. Was und wie sollte es sein, damit es meinem Kind gut geht?"
Oft hilft es, wenn man mit dem Kind spricht. Da bemerke man oft schnell, wo es hakt. Aber das gelingt nicht immer. In dem Fall helfe der Blick von außen – von einem Coach oder einem klinischen Psychologen, der den Schüler oder die Schülerin austestet und schaut, wo die Probleme liegen. "Manchmal öffnet das den Vätern und Müttern die Augen", berichtet Simon.
"Wenn Eltern merken, was das Beste in der Situation für ihr Kind ist, können sie auch entsprechend handeln." Manchmal heißt das, dass es für die Tochter oder den Sohn besser ist zu wiederholen. Ein verlorenes Jahr ist das dann in keinem Fall. "Weitaus schlimmer ist es, wenn das Kind so überfordert ist, dass es die Lust am Lernen völlig verliert und irgendwann zum Schulabbrecher wird." Es ist also nicht immer ein Glück, wenn man aufsteigen darf.
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