Warum es dieser Tage so viele Menschen in die Kirchen zieht

Der Besuch von Kirchen als Revolution gegen die Banalität.
Advent-Rituale, Teil 24: Religionssoziologe Paul Zulehner über "die tiefe Sehnsucht der Menschen nach mehr".

„Ein Kirchenbesuch gehört für mich zu Weihnachten einfach dazu.“ – Dieser Satz ist für den Religionssoziologen Paul-Michael Zulehner „einfach genial“. – „Das ist einer der besten Sätze, den Menschen sagen können, und zwar nicht nur wegen ihrer Kindheitserinnerungen. Er ist eine Revolution gegen die Banalität. Er drückt ihre tiefe Sehnsucht nach mehr aus. Die Menschen wissen ganz genau, dass es nicht sein kann, dass man jahrzehntelang nur arbeitet, kauft und konsumiert. Diese Hamsterrad-Philosophie der Moderne erschöpft sich gerade vor unseren Augen.“

Warum es dieser Tage so viele Menschen in die Kirchen zieht

Paul-Michael Zulehner: "Erfahrung der Beheimatung."

Er kenne immer mehr Leute, die heute Weihnachten ohne Geschenke und ohne diesen Geschäftsrummel feiern. „Und viele sagen, es muss doch in Weihnachten noch irgendetwas Stärkeres enthalten sein, aber das verschütten wir uns durch den ständigen Rummel.“

Größerer Raum

Hinzu komme, dass es heute zwar weniger Kinder gebe, diese aber den Menschen „viel wichtiger“ seien: „Und sie möchten das, was ihnen wichtig und wertvoll ist, in einen größeren Raum einbetten, in das nicht Alltägliche. Das Alltägliche braucht sozusagen das nicht Alltägliche als Horizont.“ Weihnachten sei ein Fest der Beheimatung – und die finde der Mensch vordergründig in der Familie, aber hintergründig „in einem bergenden Gott“.

In der neuen Europäische Wertestudie von Regina Polak und Lena Seewann (Uni Wien) habe ihn selbst überrascht, dass doch immerhin 37 Prozent der Befragten angaben, einmal im Monat oder öfter an Gottesdiensten teilzunehmen: „Und dieser Wert zeigt, die Menschen verändern ihre religiöse Praxis, aber sie beenden sie nicht.“ 63 Prozent bezeichneten sich in der Studie als „religiöse Menschen“, und 73 Prozent glauben an Gott.

Es sei auch kein Zufall, dass „auf den Weihnachtsmärkten mehr Engel herumschwirren als in allen Kirchen zusammen.“ Da schließe sich der Kreis: „Die Spuren der Engel sind ja die Boten der Transzendenz, wie es der Soziologe Peter Ludwig Berger gesagt. Es geht ein kleines Fenster des Himmels auf, wenn die Weihnachtsengel zu singen beginnen. “ In einer Umfrage, was Menschen heilig sei, seien „Freiheit“ und „Heimat“ an der Spitze gestanden, sagt Zulehner. „Der Erfahrungsort der Beheimatung ist eben die Familie – wobei den Menschen bewusst ist, wie verletzlich diese geworden ist.“

Dabei sei Heimat durchaus etwas Zwiespältiges: „Sie kann nationalistisch oder nationalsozialistisch missbraucht werden. Aber zugleich ist Heimat ein Grundwunsch jedes Menschen – ohne Wurzeln kann er nicht leben. Der Wunsch nach Beheimatung ist so tief, dass man ihn durch nichts ersetzen kann.“ In einer mobilen Welt sei das Stabilisierende von wachsender Bedeutung: „Deswegen suchen auch Menschen, die noch eine Nabelschnur zum Religiösen haben, durch den Gottesdienstbesuch zu Weihnachten diese Beheimatungserfahrung aus ihrer Kindheit – mit den schönen Liedern wie Stille Nacht, dem Tannenbaum, dem Weihrauch – das sind alles Erfahrungen einer Welt, die einen birgt und hält.“

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