Ob als Audio, TV-Dokumentationen oder Bücher: Das True-Crime-Genre erfährt seit einigen Jahren einen regelrechten Boom. Die Inhalte drehen sich meist um erschreckende Vorkommnisse von großer Brutalität und exzessiver Gewalt, die, wie der Name schon sagt, auf wahren Begebenheiten beruhen. Man denke etwa an den Erfolg der Netflix-Reihe zum Serienmörder Jeffrey Dahmer.
Immer mehr Menschen lassen sich von den blutrünstigen Inhalten fesseln, insbesondere im deutschsprachigen Raum reißt der Hype um True-Crime-Podcasts nicht ab. Das merkt übrigens auch der KURIER: Der hauseigene Podcast "Dunkle Spuren" thematisiert ungeklärte Verbrechen und erfreut sich einer stetig wachsenden Fan-Gemeinde. Und: Die eindeutige Mehrheit der Hörenden sind Frauen.
Damit ist das Podcast-Format des KURIER keine Ausnahme. Das True-Crime-Magazin "Stern Crime" des deutschen Stern etwa verzeichnet stolze 81 Prozent Leserinnen.
"Seven.One" hat zur weiblichen True-Crime-Faszination im Jahr 2022 eine Studie durchgeführt. Das Ergebnis: 93 Prozent der Befragten sind Frauen, 58 Prozent sind zudem zwischen 20 und 29 Jahre alt. Die Erhebung fasst es wie folgt zusammen: "True Crime ist ein weibliches Phänomen". Das gilt nicht nur für die Fans, auch die Hosts von True-Crime-Podcasts sind zu einem überwiegenden Teil weiblich.
Corinna Perchtold-Stefan forscht am Institut für Psychologie der Universität Graz und führte ebenfalls eine großangelegte Studie zur weiblichen Faszination an wahren Verbrechen durch – konkreter zur "morbiden Neugier", die in uns allen schlummert, sowie zu der Frage, ob der True-Crime-Konsum Frauen dabei hilft, adaptiver mit Angst und Bedrohung im Alltag umzugehen.
KURIER: Die Faszination rund um wahre Verbrechen ist kein neues Phänomen. Warum aber boomt True Crime seit ein paar Jahren nun dermaßen?
Corinna Perchtold-Stefan:Menschen haben sich schon immer für Verbrechen interessiert. Das ist kein neues Phänomen des digitalen Zeitalters, aber der Zugang zu gruseligen echten Geschichten aus dem echten Leben ist viel einfacher geworden. Wir können Medienstatistiken durch Streaming & Co viel besser erfassen. So hat etwa vor 50 Jahren niemand mitprotokolliert, wie viele Leute sich True-Crime-Bücher aus Bibliotheken ausborgen oder als VHS-Kassette ausleihen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass das Interesse an True Crime so groß ist wie nie zuvor. Meiner Meinung nach ist aber nur das Angebot durch die modernen Medien reichhaltiger geworden.
Man könnte meinen, dass ob der aktuellen Nachrichtenlage schon genug Schreckliches auf der Welt passiert – warum widmet man sich dann noch in der Freizeit Podcasts oder Dokus über Verbrechen an?
Wir Menschen haben das grundlegende Bedürfnis, das Unverständliche und Extreme zu verstehen und dadurch auch besser damit umgehen zu können. Das Interesse an negativen oder angsteinflößenden, Dingen – wie True Crime, aber auch Horrorfilmen, Internet-Videos über verpfuschten Schönheits-OPs oder Verkehrsunfälle – nennt die Forschung morbide Neugier. Wir wollen Unsicherheit hinsichtlich Ängste und Sorgen reduzieren, die uns persönlich beschäftigen. Und hier bieten True-Crime-Formate weit mehr Personalisierbarkeit als Nachrichten: ich kann mir das Verbrechen aussuchen, die Art der Berichterstattung, die Länge, ob es ein gelöster oder ungelöster Fall ist, etc .... Noch dazu sind sie 24 Stunden am Tag verfügbar. Bei True Crime Podcasts spielt auch die Beziehung zu den Hosts eine Rolle, da hier oft das Gefühl entsteht, mit Freunden oder guten Bekannten über ein persönlich relevantes Thema zu plaudern, Stichwort "parasoziale Beziehungen". All das ist an True Crime anziehend.
Warum lieben Frauen True Crime? Corinna Perchtold-Stefan forscht dazu an der Universität Graz.
Dank True-Crime-Podcasts für Gefahren "gewappnet"
Diverse Studien belegen, dass das Genre vor allem eine weibliche Zielgruppe anspricht – warum?
Auch wir haben in unserer Studie aus dem Jahr 2023 gesehen, dass Frauen mehr True Crime konsumieren als Männer, und zwar in allen Formaten. Weibliche Fans konsumieren pro Woche durchschnittlich 7 Stunden, männliche Fans etwa 3 Stunden. Frauen berichten in unserer Untersuchung vom Motiv der defensiven Vigilanz, sprich, sie wollen durch True-Crime-Konsum lernen, wie sie sich auf Gefahren im echten Leben vorbereiten und besser gegen Verbrechen verteidigen können. Dazu passt auch, dass Frauen mehr Angst vor Gewalt und Verbrechen haben als Männer, und durch True-Crime-Welten möglichst viel über ihre Ängste erfahren wollen und lernen wollen, wie sie diese kontrollieren können.
Laut Gewaltschutzbilanz des Innenministeriums sind 90 Prozent der Gewalttäter männlich – und Österreich ist leider ein Land der Femizide. Rührt die weibliche Faszination für True Crime und Krimis auch aus diesem Umstand?
Das Motiv, True Crime aus Selbstschutzgründen zu konsumieren, ist bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern. Ob True-Crime-Konsum bei Frauen speziell in der Angst vor körperlicher und sexueller Gewalt durch Männer begründet ist, ist noch nicht klar. Denn die Formate umfassen eine Bandbreite an Verbrechen inklusive Mord und Sexualdelikte, aber auch Entführungen, Rufschädigung, Diebstähle, Scams, Cybercrime, oder Terroranschläge, die nicht unbedingt dem Schema folgen, dass eine Frau das Opfer ist und ein Mann der Täter. Hier müsste man sich die Inhalte näher anschauen, die bevorzugt von Frauen konsumiert werden.
Neue Studie: Inwiefern True-Crime-Konsum in einem Land mit den Gewalttaten im selben Land zusammenhängt, ist Ziel einer groß angelegten internationalen Studie von Corinna Perchtold-Stefan, die 2026 starten soll. Hier soll untersucht werden, ob der Konsum in Ländern höher ist, die eine höhere Kriminalitätsrate bzw. höhere Gefahr für Frauen haben (zum Beispiel Südafrika, Indien, Venezuela), verglichen mit Ländern, in denen Frauen sicherer sind (beispielsweise Japan, Schweiz, Niederlande) – und ob sich auch die Motive für den True-Crime-Konsum in diesen Ländern unterscheiden (etwa Selbstschutz vs. Eskapismus).
An der Studie sind aktuell mehr als 20 Länder weltweit beteiligt.
Hilft das Genre dabei, das eigene Sicherheitsempfinden zu verstärken?
Wir sehen in unserer Studie von 2023, dass True-Crime-Konsum positiv mit Vorbereitungsverhalten gegen Viktimisierung im Alltag zusammenhängt, sprich True-Crime-Fans fühlen sich besser vorbereitet, um auf Gefahren im echten Leben zu reagieren. Das passt auch zu einer Studie aus den USA, die gezeigt hat, dass Fans von Zombie- und Pandemiefilmen deutlich weniger gestresst auf den Beginn der Covid-Pandemie reagiert haben. Das wirkt zunächst wie ein positiver Effekt von True Crime auf das Sicherheitsempfinden, aber ganz so einfach ist es nicht. Sich besser vorbereitet zu fühlen muss nicht unbedingt mit weniger Angst einhergehen. Hier finden wir nämlich spannende Geschlechtsunterschiede.
Inwiefern? Wie wirkt sich das Genre auf das Sicherheitsgefühl von Männern aus?
Männer, die True Crime konsumieren, fühlen sich weniger sicher und schätzen die Wahrscheinlichkeit höher ein, selbst Opfer eines Verbrechens werden.
Also so ziemlich der gegenteilige Effekt. Warum?
Es könnte sein, dass Frauen sich ihrer eigenen Verwundbarkeit prinzipiell bewusster sind als Männer und dass True-Crime-Konsum nicht viel daran ändert. Männer hingegenunterschätzen das eigene Viktimisierungsrisiko eher, True-Crime-Konsum könnte ihnen also bewusster machen, dass auch sie Opfer von Verbrechen werden können. Es gibt auch die Idee, dass Horror- und True-Crime-Welten dabei helfen können, Emotionsregulation zu trainieren und die eigene Resilienz zu steigern, weil man in der Konfrontation mit solchen Geschichten üben kann, eigenen Stress und Angst zu kontrollieren. Ob es dieses "therapeutische" Potenzial von True-Crime-Geschichten tatsächlich gibt, muss aber von der Forschung noch untersucht werden.
Die deutsche Kriminalpsychologin Lydia Benecke ist der Meinung, dass True Crime deshalb so beliebt ist, weil das Genre "Emotionen und Neugier" weckt. Warum haben wir so eine Freude daran, uns vor dem Entsetzlichen zu gruseln?
Wenn man darüber nachdenkt, wirkt es vielleicht absurd, dass wir Menschen uns gerne gruseln. Das ist aber nur der Fall, wenn wir genau wissen, dass uns keine echte Gefahr droht. Deshalb kann es Spaß machen, in einem Horrorfilm auf den nächsten Jump-Scare hinzufiebern oder sich eine düstere True-Crime-Geschichte anzuhören. Unser Angstsystem in Gehirn ist recht primitiv und kann nicht gut zwischen Wirklichkeit und Fiktion unterscheiden. Daher schlägt uns auch bei der reinen Vorstellung von Horror und Gefahr das Herz bis zum Hals oder läuft uns ein Schauer über den Rücken. Diese Angstreaktion ist automatisiert und passiert in weniger als 120 Millisekunden. Das ist viel schneller, als der rationale Teil unseres Gehirns beurteilen kann, dass uns ja gar nichts passieren kann. Sprich: Unser Furchtsystem schlägt Alarm, kurz darauf ist uns aber klar, dass wir in Sicherheit sind. Dieses Hin- und Her zwischen Furcht und Sicherheit macht dann den Kick oder Thrill aus, den wir als belohnend erleben. Man könne also sagen, True Crime ist deshalb so beliebt, weil unser Angstsystem umso effektiver anschlägt, je realer die Inhalte sind.
Sind Personen, die sich zu True-Crime-Formaten hingezogen fühlen, generell eher misstrauisch gegenüber anderen Menschen?
Ja, Personen, die viel True Crime konsumieren, geben tatsächlich an, anderen gegenüber misstrauischer zu sein. Woher dieser Zusammenhang kommt, ist noch unklar. Ist es so, dass sich grundsätzlich misstrauischere Personen von True Crime angesprochen fühlen, weil es den eigenen Erwartungen entspricht, oder macht uns True-Crime-Konsum über die Zeit hinweg misstrauischer, ängstlicher, oder paranoider unserer Umwelt gegenüber? Das muss noch in weiterführenden Studien geklärt werden.
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