In der Gondel folgt eine kurzweilige Einheit Schweizer Heimatkunde: Der Große Aletschgletscher ist mit zwanzig Kilometern der längste Eisstrom der Alpen, er ist bis zu achthundert Meter dick und rund zwei Kilometer breit. Das UNESCO-Welterbe und Schmuckstück jedes Alpenkalenders wird von vier Fernern gespeist, charakteristisch ist seine doppelte Mittelmoräne, die wie ein Geleis erscheint (zumindest im Sommer). Der Eispanzer fließt rund zweihundert Meter pro Jahr – sprich: satte fünfzig Zentimeter pro Tag. Aber sogar solch Superlativ-Giganten wie der Aletsch sind massiv von der Klimaerwärmung bedroht: In den letzten vierzig Jahren schmolzen 1,3 Kilometer Eis ab, Glaziologen befürchten noch in diesem Jahrhundert ein fast vollständiges Verschwinden.
Am besten können Winter(sport)freunde dieses gewaltige Naturschauspiel von einem der drei Bergdörfer der Aletsch Arena aus erleben: Bettmeralp, Riederalp oder Fiescheralp. Alle drei sind genauso erstaunlich wie der Namensgeber der Skiregion. Die urigen Weiler liegen auf einer nach Süden offenen Sonnenterrasse auf rund zweitausend Metern hoch über dem Tal der jungen Rhône. Sie wurden nicht nur für den Tourismus aus dem alpinen Erdboden gestampft, sondern dienen seit jeher der Alpwirtschaft und sind ganzjährig bewohnt (jeweils dreihundertfünfzig bis fünfhundert Personen). Es gibt keinerlei Verkehrsweg über die gut tausendeinhundert dachsteilen Höhenmeter vom Rhônetal herauf – und so stört kein Auto das Idyll aus typischen, wettergegerbten Walliser Holzhäusern sowie den gut angepassten Chalets und kleinen Hotels. Erreichbar ist das Berg-Trio jeweils per Gondel: Da laut Schweizer Gesetz jeder Ort ab hundert Einwohner öffentlich angebunden sein muss, verkehren die „Luftseilbahnen“ täglich von 6 bis 24 Uhr.
Wir urlauben in Bettmeralp, dem mittleren der drei „Heidi“-Dörfer. Statt einer Dorfstraße gibt es eine sanft geneigte Schneepiste, die sich Fußgänger, Schlittenfahrer, Langläufer, Winterwanderer, Skifahrer und so manches Skidoo (Gepäcktransport und Warenanlieferung) teilen. Alles ist da: zwei kleine Supermärkte, Sportgeschäfte, Restaurants und Bars, eine Bäckerei. Ski-in, Ski-out ist hier gelebte Realität, Chalet-Bewohner fahren per Schlitten oder Ski in den Supermarkt. Die liebliche Szenerie versinkt unter einer weißen Tuchent, die Häuschen tragen dicke Daunenpölster – und alles erscheint geräuschgedämpft.
Dafür brüllt das Panorama – rundum, 360 Grad, Dolby Surround: Im Südwesten steht das Mont-Blanc-Massiv, im Süden der steile Zahn des Matterhorns, weiters das Weisshorn, die Mischabelgruppe und der Dom. Gleich auf der anderen Seite des Rhônetals imponieren mächtige Grenz-Gipfel zu Italien, im Skigebiet das Aletsch-Spektakel. „In den Alpen gibt es 65 Gipfel über 4.000 Meter, je nach Zählweise liegen 35 bis 47 davon im Wallis“, erklärt David. „Ihnen verdanken wir unser stabiles Wetter, denn sie halten die Wolken ab.“
Was noch am Vormittag keiner zu hoffen wagte, wird am Nachmittag Realität: Bei Sonnenschein nehmen wir die frisch verschneiten, perfekt präparierten Pisten unter die Brettl. Die „wirklich ehrlich gemessenen hundertvier Abfahrtskilometer“ (so David) sind vorwiegend leicht und mittelschwer, weitläufig und laden zu flotten Carvingschwüngen ein. – Stets dem allgegenwärtigen Matterhorn entgegen. Die Aletsch Arena ist kein Revier der Cracks, sonders eines der Genuss-Skifahrer und Familien. Da ist immer Zeit zum Schauen und Staunen.
Das Angebot für einen gepflegten Winterurlaub ist bemerkenswert – auch abseits der Pisten: Da warten fünfundsiebzig Kilometer präparierte Winterwanderwege, endlose Schneeschuhtrails, unzählige Offpiste- und Skitourenmöglichkeiten, „Schlittelbahnen“ (bis zu elf Kilometer lang), Langlaufloipen, Schneesportschulen und Kinderskiländer sowie unaufdringliches, gesittetes Après-Ski. Alles ist da, was im Winter Spaß macht.
Kulinarisch erleben Besucher hier so manch positive (und für Schweizer Verhältnisse relativ preiswerte) Überraschungen. Etwa die regionale Spezialität namens „Cholera“: Dieser gedeckte salzige Mürbteigkuchen mit einer Fülle aus Kartoffeln, Käse, Apfel und Lauch entstand während einer Epidemie, nämlich der Cholera. Auch damals durfte die Bevölkerung das Haus nicht verlassen und musste verkochen, was die Keller auf der Alp hergaben.
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