Das Leben nach dem #aufschrei

Unter dem Hashtag berichteten Frauen auf Twitter über Alltagssexismen, die sie erleben
Die Netz-Aktivistin Anne Wizorek spricht über Alltagssexismus, Gewalt und Wickeltische im Damenklo.

Als Berufsbezeichnung lässt sie "Feministin" nicht gelten. "Nein, ich bin Aktivistin, Autorin und Beraterin für digitale Medien", erklärt Anne Wizorek. Auf Einladung der Wiener SPÖ-Frauen war die Berlinerin kürzlich in Wien. Einen Namen machte sich die Mittdreißigerin 2013 mit dem Hashtag #aufschrei. Unter dem Begriff klagte sie auf Twitter über Alltagssexismus, Tausende Userinnen folgten ihr und schilderten ihre persönlichen Erfahrungen mit der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.

KURIER: Der deutsche Justizminister plant, sexistische Werbung zu verbieten. Allerdings als Reaktion auf Köln. Verstehen Sie diese Verknüpfung?

Das Leben nach dem #aufschrei
Anne Wizorek:Es gibt Studien, dass die Hemmschwelle dafür sinkt, Frauen herabzusetzen und sogar Gewalt anzuwenden, wenn sie als Objekte – wie in der Werbung – dargestellt werden.

Bekämpft man nicht ein Symptom, und das Problem selbst wird gar nicht angegangen?

Sexistische Bilder sind mit dem verknüpft, wie wir miteinander umgehen. Jetzt kommt es uns normal vor, weil es Teil unserer Welt ist. Wenn wir aber Männer in typischen Posen abbilden, wie Frauen dargestellt werden, kommt es uns total merkwürdig vor. Dann erst bemerken wir, wie normal diese Darstellung von Frauen für uns ist.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich kenne eine Werbung von einem Handwerksbetrieb, wo halb nackte Frauen abgebildet sind mit dem Spruch "Wir machen Ihre Alte wieder flott". Oftmals bemühen sich solche Firmen der Ironie, damit spätere Kritik ins Leere läuft. Solange Sexismus Teil unseres Alltag ist, ist ironische Darstellung nicht möglich.

Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Sexismus und der Abbildung von Realität, beispielsweise Wickeltische auf Damentoiletten?

Das ist ein Problem, weil Männern und Frauen bestimmte Rollen zugeordnet werden. Es gibt Modelle aus Skandinavien, wo sich die Wickeltische in einem Extra-Raum befinden. Wobei es in Skandinavien oft Unisex-Toiletten gibt.

Worin unterscheidet sich der Feminismus von heute zu früher?

Der Feminismus von heute bedeutet für mich, das Internet als Werkzeug mitzudenken. Aber auch als Ort, der uns politisiert, weil meine Generation damit aufgewachsen ist und hier mit Feminismus erstmals konfrontiert wird und nicht in den Gender-Studies-Seminaren. Das Netz hat großes Potenzial, die Diskussionen runterzubrechen. Es geht um die Botschaft, dass wir noch immer nicht alles erreicht haben. Sexualisierte Gewalt, Vereinbarkeit und Pflege sind ganz große Themen. Der Aspekt der Intersexualität ist für uns heute viel selbstverständlicher als es früher war: Wir fragen, welche Diskriminierung erlebt eine homosexuelle Frau oder wie sieht der Alltag einer Muslima mit Kopftuch aus, die von Sexismus und Rassismus betroffen ist. Gerade in medialen Debatten geht es um die Probleme der weißen heterosexuellen Frauen, ob sie den Vorstandsjob bekommen. Dabei handelt es sich natürlich um eine sehr kleine Gruppe.

Sind unsere Mütter schuld, weil sie uns in den 70er und 80ern gesagt haben, dass wir alles erreichen und werden können, und in Wahrheit gibt es die gleichen Probleme wie damals …

Ich bin im Osten aufgewachsen. Hier hatten wir nicht die klassische Frauenbewegung wie im Westen, sondern andere Rollenbilder: Meine Mutter ist arbeiten gegangen, hat einen technischen Beruf gewählt. Generell finde ich es richtig, Kindern zu vermitteln – unabhängig vom Geschlecht –, alles werden zu können. So wie Burschen nicht darauf reduziert werden sollten, nur Manager-Jobs oder technische Berufe anzustreben, obwohl sie vielleicht lieber Erzieher werden möchten.

War die Aktion #imzugpassiert eine Form von jungem Feminismus oder die neue Art, Protest auszudrücken?

Beides. Durch solche Aktionen können sich betroffene Menschen über ihre Diskriminierungs- und Gewalterfahrung austauschen und diese öffentlich machen. Gerade bei sexualisierten Übergriffen ist es wichtig, den Opfern zu vermitteln, dass sie nicht alleine sind und dass sie nicht schuld sind. Ein Medium wie Twitter ist hier sehr hilfreich, um Impulse zu geben. Viele Menschen sind schon abgestumpft, was Statistiken betrifft. Wenn aber Erfahrungsberichte geschildert werden, gibt es neue Möglichkeiten zu zeigen, was Alltags-Sexismus und sexualisierte Gewalt überhaupt ist.

Unter #imzugpassiert haben Frauen oft Situationen geschildert, die keinen Straftatbestand erfüllen: Männer haben sie stundenlang im Zug angestarrt, haben sie angemacht oder einen Teil des Weges verfolgt. Man möchte meinen, dass Männer längst wissen, dass sie hier Grenzen übertreten ...

Es gibt durchaus Studien, die zeigen, dass solche Taten ein Ausüben von Macht sind. Die Männer denken sich "Ich darf das jetzt mit dir machen". Ein weiteres Problem ist das fehlende Bewusstsein für Zivilcourage, weil Mitreisende den Frauen nicht geholfen haben. Es braucht mehr Menschen, die aufstehen.

Sind eigene Frauenbereiche im Zug oder im Fitnesscenter wirklich die Lösung?

Geschützte Räume sind immer nur eine temporäre Lösung. Diese Konzepte sind nicht der Weisheit letzter Schluss: Es kann nicht sein, dass Frauen nur ein kleiner Bereich zusteht und Männer sich den Rest aufteilen. Auch bleibt die Frage, wohin jene Menschen gehen sollen, die sich nicht einem Geschlecht zuordnen wollen. Gewaltprävention muss viel früher ansetzen: Es reicht nicht, Gesetze zu verändern. Wir müssen eine Bildung schaffen, die Prävention mitdenkt, damit es gar nicht erst zu Gewalt kommt. Zwei Beispiele: Es darf im Kindergarten keine Buben- und Mädchenspielecken geben. Und wir dürfen Mädchen nicht sagen, wenn es zu Gewalt kommt, dass der Bub sie ja nur mag.

Ist es paradox, von Männern zu erwarten, dass sie liebevolle Väter werden, die in Vaterkarenz gehen, wenn sie nie mit Puppen im Kindergarten spielen oder Gefühle zeigen durften?

Absolut. "Unser" Bild von Männlichkeit ist extrem einschränkend. Ich hatte im Kindergarten einen besten Freund, der von einem viel größeren Rowdy angegriffen wurde. Nachdem ich mit dem anderen Buben gerauft habe, hat die Kindergärtnerin gesagt, dass "Mädchen so was nicht machen dürfen". Ich hab das damals überhaupt nicht verstanden: Die Veranlagung zur Feministin war immer schon da.

#aufschrei ist drei Jahre her: Was hat sich seitdem getan?

Medien gehen seit Aufschrei mit # anders um – das ist schön zu sehen. Ein # kann nicht das Patriarchat abschaffen. #aufschrei hat sichtbar gemacht, dass wir 2013 noch immer über sexualisierte Gewalt, Belästigung am Arbeitsplatz oder Vergewaltigung im Bekanntenkreis reden müssen. Bei Köln haben wir plötzlich gesehen, wie Menschen, die 2013 kein Problem mit Alltags-Sexismus hatten, in Köln alles ganz schlimm fanden. Wir haben gesehen, wie Frauenrechte schnell für eine rassistische Agenda instrumentalisiert werden.

Zuletzt wurden Vorfälle von muslimischen Vätern publik, die Lehrerinnen ihrer Kinder nicht die Hand geben wollen. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Sexismus und Religionsfreiheit?

Ich glaube, dass ein interkultureller Austausch noch immer sehr wichtig ist, um Vorurteile abzubauen. Es ist interessant, das sich solche Debatten immer an Traditionen von muslimischen Menschen entzünden, die im christlichen Kontext oft nicht hinterfragt werden.

Frankreich führt Strafen für Freier mit der Begründung ein, dass der Kauf von Sex gegen die Menschenwürde verstößt: Darf die Frau mit ihrem Körper machen, was sie will?

Sexarbeit ist nicht per se etwas, das verboten gehört. Viele verwechseln Sexarbeit mit Menschenhandel. Wenn Prostitution verboten wird, haben deswegen nicht alle Frauen den Job, den sie wollen. Armuts-Prostitution wird es geben, solange es Armut gibt. Hier wäre ein Verbot der falsche Ansatz, um Armut zu bekämpfen. Eine Bestrafung der Freier führt eher dazu, dass Sexarbeit in den Untergrund gedrängt wird, und Sexarbeiter weniger Möglichkeit haben, sich zu wehren.

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