Shein: Der hohe Preis der Billigmode
Zwischen Sale, Spezialangeboten, neuen Kollektionen und grell aufpoppenden Rabattcodes ist es gar nicht so leicht, auf der Website den Überblick zu behalten. Schnell macht sich eine leichte Überforderung breit, denn das Angebot ist quasi unendlich.
Allein unter dem Menüpunkt "Damenbekleidung" kann man aus 480.000 Teilen auswählen - und jeden Tag kommen bis zu 10.000 neue hinzu. Zum Vergleich: Bei Zara sind es wöchentlich knapp 200.
Das ist Shein (ausgesprochen: She-In), der Onlinehändler, dessen App im Vorjahr in den USA zwischenzeitlich häufiger heruntergeladen wurde als die von Amazon. Von CEO Chris Xu im Jahr 2008 im chinesischen Nanjing als "Sheinside" gegründet, ist dem Konzern seither eine beispiellose Erfolgsgeschichte gelungen.
Über den Umsatz lässt sich nur spekulieren, Shein ist bekannt für seine Intransparenz und veröffentlicht keine Zahlen. Kolportiert wurden im Jahr 2020 jedoch 10 Milliarden US-Dollar, mit einer jährlichen Wachstumsrate von über 100 Prozent.
Der Konkurrenz voraus
Nun ist Shein natürlich bei weitem nicht der einzige Fast-Fashion-Produzent. Es gibt jedoch, neben der riesigen Auswahl, einige Faktoren, die das Unternehmen von der Konkurrenz unterscheiden. Timo Kollbrunner, der für die Schweizer NGO Public Eye in einem Team zum Textilriesen recherchierte und die Reportage "Schuften für Shein" verfasste, umreißt sie folgendermaßen: "Anders als etwa H&M oder Zara verzichtet Shein ganz auf Geschäfte und liefert direkt an den Endkunden. Zudem lassen sie ihre Kleider nicht in riesigen Fabriken nähen, sondern verfügen über ein ganzes Netzwerk an kleineren, per Computer verbundenen Werkstätten – was eine extrem flexible Produktion ermöglicht."
Und schließlich spiele das Unternehmen extrem effektiv auf der Klaviatur der sozialen Medien. "Der Gründer kommt aus der IT und ist Experte für Suchmaschinenoptimierung, das ist bezeichnend", kommentiert Kollbrunner. Das Angebot sei sehr stark computergesteuert und personalisiert, gleichzeitig gebe es immer wieder neue, geradezu süchtig machende Incentives, die Seite bzw. die App zu besuchen.
Erfolgsmodell
Vom Hochzeitskleid (ab acht Euro!) über die Handyhülle, zum neuen Sommeroutfit und Pyjama – es gibt kaum etwas, das man bei Shein nicht findet. Dabei ist die Plattform deutlich günstiger als die Fast-Fashion-Konkurrenz wie H&M, Mango oder Asos. Gleichzeitig extrem preiswert, unübersichtlich groß und ständig wechselnd, ist das Angebot auf die Bedürfnisse junger Menschen und ihrer notorisch knappen Budgets geradezu zugeschnitten.
In einer Zeit, in der der Hashtag #ootd (Outfit of the day, dt. Outfit des Tages, Anm.) alleine auf Instagram knapp 400 Millionen Beiträge erzeugt und die Halbwertszeit von Modetrends extrem kurz ist, kommt ein Anbieter, der schneller als der Rest auf Trends reagieren kann, natürlich gelegen.
Ständig neue Deals locken auf die Seite, auf der man mit jedem Einkauf Punkte sammelt, die man wiederum gegen Rabatte einlösen kann. Punkte beschert auch das Abgeben von Bewertungen, was dann dazu führt, dass deren Sinn und Zweck ad absurdum geführt wird: "Bitte liked mein Kommi, damit ich Punkte sammeln kann!" oder "Fühlt sich relativ hochwertig an lol (brauche Punkte also schreib ich jetzt einfach irgendwas lmao."
Und auch das "tägliche Einchecken" auf der Seite wird mit Bonuspunkten belohnt. Diese verfallen allerdings teilweise bereits nach sieben Tagen. Will man also bestmöglich von allen Goodies profitieren, findet man sich schnell in einem Kreislauf wieder, in dem man permanent Punkte sammelt, um sie wieder auszugeben.
Jeder ist ein Influencer
Besonders auf der gerade bei der Gen Z (Generation Z, zwischen 1997 und 2021 Geborene, Anm.) beliebten Plattform Tiktok wurden unter #sheinhaul gelistete Videos unglaubliche 4,5 Milliarden mal angesehen.
Darauf zu sehen: zumeist junge Mädchen und Frauen, die vor der Kamera ihre Shein-Lieferung säcke- und kistenweise ausleeren und Stück für Stück präsentieren. Kostenlose Werbung für den Textilgiganten, der sich zusätzlich noch auf ein ganzes Heer an Influencerinnen verlassen kann.
Die Kooperation wird diesen denkbar einfach gemacht. Direkt auf der Website weist ein Link das sogenannte Affiliate-Programm aus, die Anmeldung ist mit wenigen Klicks erledigt, die Mitgliedschaft ist kostenlos.
Präsentiert man nun seinen Followern auf Social Media den "figurbetonten Rock mit Tropenmuster" oder das "Stirnband mit Hasenohr Design" und werden diese Teile dann über den eigens bereitgestellten Link gekauft, erhält man als Affiliate-Partner 10-20 Prozent Provision. Teilt man Shein-Werbeaktionen auf seiner Seite, winkt ein zusätzlicher monetärer Bonus. Auf diese Weise erzeugt das Unternehmen eine unglaublich große Sichtbarkeit seiner Produkte zu vergleichsweise niedrigen Kosten.
Singen für Shein
Doch nicht nur Influencer und modeaffine Teenager springen für Shein in den Ring - auch Stars arbeiten mit dem Konzern zusammen. Mit "Shein X Rock the Runway" gab es erst im Herbst 2021 ein Modeschau-Konzert-Crossover, das quer über alle Social-Media-Seiten des Unternehmens ausgespielt wurde.
Unter anderem traten Musiker wie Saweetie und The Chainsmokers auf, umgeben von Tänzerinnen und Tänzern in den neuesten Shein-Kollektionen. Auch Katie Perry, Lil Nas X, Doja Cat oder Rita Ora gingen für Shein bereits auf die virtuelle Bühne.
Kontroversen
Dabei kam das Unternehmen auch immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik. Produkte wie ein muslimischer Gebetsteppich in der Abteilung "Home Decor", ein Swastika-Anhänger oder eine Kette mit dem arabischen Schriftzug für "Allah" sorgten für Empörung und mussten zurückgezogen werden. Zudem erbeuteten Hacker 2018 bei einem Datenleck die Zugangsdaten von sechs Millionen Shein-Usern.
Oft wurde das Unternehmen auch des Ideenklaus bezichtigt. Sowohl Levi's als auch Dr. Martens strebten wegen Kopien ihrer Designs Gerichtsverfahren gegen Shein an. Aber auch die Entwürfe zahlreicher kleiner Labels wurden plagiiert, die anders als etablierte Marken nicht die Ressourcen haben, sich gegen den riesigen Konzern wehren zu können.
Dass Designs gezielt zum Plagiat ausgewählt werden, glaubt Timo Kollbrunner eher nicht. Vielmehr würden wohl Shein-Bots automatisiert tausende Webseiten nach Designs, die gerade trenden, durchsuchen und die Daten analysieren. "Will man dann als Designer Shein in die Verantwortung nehmen, findet man keine Ansprechpartner und Kontaktadressen."
Bailey Prado, die ihr eigenes kleines Label betreibt, fand ganze 45 ihrer Designs im Shein-Shop wieder. Auf Instagram schreibt sie: "Meine Entwürfe, meine Arbeit der letzten drei Jahre, wird jetzt an Millionen Shein-Kunden verkauft, die nie von mir erfahren werden." Besonders bitter ist das auch deswegen, da gerade diese kleinen Labels, deren Produkte billig reproduziert werden, eigentlich auf Nachhaltigkeit setzen.
Greenwashing
Offiziell liegt die Nachhaltigkeit auch dem Unternehmen am Herzen. Ende letzten Jahres wurde, nachdem Public Eye ihre Recherche veröffentlicht hatte und diese weltweit aufgenommen wurde, der Posten eines "Head of Sustainability" (Leiter für Nachhaltigkeit, Anm.) geschaffen.
Prinzipiell ein Schritt in die richtige Richtung. Ob sich aber substanziell etwas ändert, bezweifelt Kollbrunner. "Es gibt so viel zu tun, da reicht ein Sustainabilitymanager sicher nicht aus."
Die Seite, die sich auf Shein.com unter dem Menüpunkt "Soziale Verantwortung" öffnet, bezeichnet er als "Witz". Tatsächlich gibt es hier nur holprig übersetzte Stehsätze zu lesen. "Wir haben ein reizbares Recycling-Programm eingeführt" oder "Die Welt ist unser Laufsteg. Also lasst uns genauso verhalten."
Doch schon der Blick auf die Preise und die minderwertige Qualität der Produkte lässt erahnen, welchen Stellenwert die nachhaltige Produktion fürs Unternehmen hat. "Shein verkauft Wegwerfkleidung", stellt Kollbrunner fest. Der Rückversand von Bestellungen ist oft so kompliziert oder teuer, dass er sich kaum lohnt, in anderen Fällen erstattet Shein das Geld zurück, teilt aber mit, das Produkt müsse gar nicht retourniert werden. So landen die unerwünschten Produkte dann eben an ihrem Zielort in Mistkübeln und Sammelstellen.
Arbeitsbedingungen
Die ultratiefen Preise und die blitzschnelle Produktion sind nur möglich, weil die Arbeiterinnen und Arbeiter, die die Billigmode herstellen, verpacken und zum Versand vorbereiten, unter großem Druck und extrem lange arbeiten. Gespart wird eben, wo es geht. Die Public-Eye-Recherche in einigen der Werkstätten im chinesischen Guangzhou, die zu den tausenden Shein-Zulieferbetrieben gehören, legt mehr als prekäre Arbeitsbedingungen offen.
Die Näherinnen und Näher, fast ausschließlich Wanderarbeiter aus ärmeren Provinzen, arbeiten bis zu zwölf Stunden am Tag, durchschnittlich 75 Stunden in der Woche bei einem freien Tag pro Monat. Arbeitsverträge gibt es nicht. Bedingungen, die zwar in chinesischen Textilfabriken nicht ungewöhnlich sind, dennoch grob gegen das dortige Arbeitsrecht verstoßen.
Durch die kleinen Produktionsmengen von teils nur 50 bis 200 Stück wechseln die Schnittmuster häufig, was für die Näherinnen und Näher, die pro Kleidungsstück bezahlt werden, eine zusätzliche Herausforderung darstellt. Zudem berichten die Rechercheurinnen vor Ort von mit Kleidersäcken zugestellten Gängen, fehlenden Notausgängen und vergitterten Fenstern.
Trotzdem sind die Jobs bei Sheins Zulieferbetrieben gefragt. Denn ist man gewillt, unter unsicheren und ausbeuterischen Bedingungen mehr oder weniger rund um die Uhr zu arbeiten, verdient man "in guten Monaten" verhältnismäßig gut - bis zu 10.000 Yuan, umgerechnet rund 1.450 Euro.
Intransparenz
An Informationen zu kommen ist bei dem für seine Intransparenz bekannten Unternehmen jedoch schwierig. Woher die Stoffe kommen, woher die Rohstoffe, wird nicht offengelegt. Könnte es sein, dass in Shein-Kleidung Baumwolle aus Zwangsarbeit in uigurischen Gebieten steckt? "Das ist sogar wahrscheinlich, aber unmöglich zu beweisen", sagt Timo Kollbrunner. "Und genau deshalb wären gesetzliche Pflichten punkto Lieferkettentransparenz so wichtig."
Tatsächlich schmückte sich das Unternehmen stolz mit dem Zertifikat SA8000®, das aussagt, dass ein Unternehmen weder Kinder-, noch Zwangsarbeit einsetzt und garantiert für Mindeststandards beim Schutz seiner Mitarbeiter zu sorgen. Das Problem: Die NGO, die diesen Standard vergibt, war mit Shein nie in Kontakt. Seit das bekannt wurde, ist der Hinweis auf das Zertifikat von der Website verschwunden.
Das Bewusstsein über die ethischen und ökologischen Probleme, die man bei Shoppen von Shein-Produkten in Kauf nimmt, hat sich sich in letzter Zeit verschärft. In den Kommentaren unter den "Haul"-Videos finden sich vermehrt kritische Stimmen. Influencer und Stars können kaum noch behaupten, nicht zu wissen, mit wem sie da eine Kooperation eingehen.
Timo Kollbrunner hegt die leise Hoffnung, dass die minderwertige Qualität der Produkte von selbst dafür sorgen werden, dass der Shein-Boom wieder abebbt. Doch für sehr wahrscheinlich hält er das nicht.
"Das perfide an diesem Geschäftsmodell ist ja", so Kollbrunner, "dass es gar nicht darum geht, jungen Menschen Kleider zu verkaufen, die diese brauchen. Das eigentliche Ziel ist es, sie davon zu überzeugen, dass ihr Leben daraus besteht, sich permanent neu einzukleiden. Und Shein hat es besser verstanden als jede andere Marke, Socialmedia-Plattformen virtuos zu nutzen, um diese jungen Menschen an sich zu binden."
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