Hartes Los: Langzeitarbeitslos

Wenig zu lachen: Sie treffen sich im Gasthaus „Zum Lustigen Radfahrer“ in Wien-Margareten
Mehr als 100.000 Österreicher – älter als 50 – sind arbeitslos gemeldet. Ein privater Verein in Wien hilft Betroffenen, böse Demütigungen zu bewältigen
Von Uwe Mauch

Arnold ist jetzt den Tränen nahe. Der 60-jährige Wiener, der mehr als die Hälfte seines Lebens als Servicetechniker in der Fotobranche tätig war, spricht ruhig, sehr gewählt, erzählt sehr präzise. Er ist einer von knapp 400.000 Menschen in Österreich. Er hat keine Arbeit.

Donnerstag, nach 17 Uhr. Im Extraraum beim Dormann in der Wiener Jahngasse, ebenso bekannt als Gasthaus "Zum Lustigen Radfahrer", will auch heute niemand so recht lachen. Hier treffen sich Donnerstag für Donnerstag Menschen älter als 50, die so wie Arnold arbeiten möchten, aber nicht dürfen. Die hier im Gespräch mit anderen erfahren, dass sie damit nicht alleine sind. Und dass sie noch nicht zum alten Eisen zählen. Deshalb schätzen sie auch den Verein Zum Alten Eisen?

Arnold war für renommierte internationale Fotofirmen tätig. "Nie musste ich mich für meine Arbeit rechtfertigen." Im Gegenteil. Er galt immer als gut qualifiziert und stets verlässlich. Doch dann warf die globale Finanzkrise erste dunkle Schatten – auch über seine Branche.

Die klassische Entwicklung in einem auf maximale Exceldatei-Effizienz ausgerichteten Wirtschaftssystem: Reparaturen wurden immer öfter von Wien in die Europazentralen der Konzerne gesandt, bis es eines Tages hieß, dass die Servicetechniker in Österreich überflüssige Kostenfaktoren darstellten. "Das war schon schlimm", erinnert sich der heute arbeitslose Techniker. "Man kämpft mit allen Mitteln um den Erhalt seines Arbeitsplatzes, aber es funktioniert nicht."

Gemobbt – dann gekündigt

Ein halbes Jahr lang wurde Arnold in seiner Firma gemobbt. Weil er nicht von selbst kündigen wollte. "Mal gab es für mich Arbeit, mal nicht. Ich wurde intern wie eine Spielfigur hin- und hergeschoben." Bis er eines Tages zum Gespräch in die Geschäftsführung eingeladen wurde. "Nach wenigen Minuten war das erledigt. Es gab auch keine Begründung für meine Entlassung."

Heute weiß er: "In diesem Moment braucht man enorme psychische Ressourcen. Man ist davon überzeugt, dass man es nicht geschafft hat. Ich habe die Schuld lange Zeit nur bei mir gesucht."

Es war für ihn auch ein böses Erwachen: "Ich war immer beschäftigt, ich habe gar nicht gewusst, wie das ist, plötzlich arbeitslos zu sein. Zuerst glaubt man, dass man eh gleich wieder Arbeit findet. Aber das funktioniert auch nicht." Kopfnicken der anderen Eisernen im Extrazimmer. Mehr als 100.000 Arbeitslose hatten im Vormonat ihren 50. Geburtstag bereits hinter sich. Das entspricht einem weiteren Anstieg von 14,6 Prozent.

"Ich habe mit sehr viel Energie versucht, wieder was zu finden. Aber man wird dann sehr schnell damit konfrontiert, dass man zu alt ist." Eine Betriebskontakterin vom Arbeitsmarktservice hat ihm ins Gesicht gesagt: "In Ihrem Alter bekommen Sie keine Ausbildung mehr."

Arnold hat mehr als 200 Bewerbungen abgeschickt und nur wenige Antworten erhalten: alle negativ. Er sagt: "Gegenüber den Jüngeren bist du einfach im Hintertreffen. Ich habe dann lang gebraucht, um wieder Vertrauen zu fassen."

Zwei Mal, vor und nach der Kündigung, hat er sich völlig verausgabt. Ohne Erfolg. Dann gab ihm seine Frau die Kündigung.Und auch gute Freunde kehrten ihm den Rücken. Erst da brannte der Gezeichnete aus. Es folgte ein langer Krankenstand im Tal der Depression. Bis heute kämpft er mit dem Selbstvertrauen: "Immer wieder taucht das Gespenst auf. Es sagt, dass man nicht mehr genügt."

Am Stammtisch beim gar nicht so lustigen Radfahrer kann jeder eine Geschichte beitragen. Eine Leidensgeschichte. Es fällt auf, dass sich die älteren Männer gegenseitig öfters ins Wort fallen, dass es ihnen schwer fällt, dem Gegenüber längere Zeit zuzuhören. Ihre Resignation, auch ihre Körpersprache erinnert an die Studie über die Arbeitslosen von Marienthal aus den 1930er-Jahren (siehe links).

Wie im Kindergarten

Nur die Erfahrungen mit dem AMS gab es in Marienthal noch nicht. Die sind ebenfalls nicht erfreulich. "Man kommt wenig Unterstützung", erklärt Vereinsobmann Dietmar Köhler. "Im Gegenteil, man wird zum Teil zu Kursen verdonnert, die völlig sinnlos sind, wo es zugeht wie im Kindergarten, und die man besuchen muss, will man nicht sein Einkommen verlieren."

Herbert, 64 Jahre alt, erzählt, wie ein nicht einmal halb so alter AMS-Betreuer allen Ernstes einen Karriereplan mit ihm erstellen wollte. Leises Lachen am Tisch. Ein guter Witz, wenn er nicht so real wäre.

Das Lachen befreit, das Reden ebenso. Die Donnerstag-Treffen geben den Gezeichneten Halt. Auch Arnold hat sich inzwischen gefangen. Er weiß, dass er schon zu lange weg war vom Arbeitsmarkt, dass er wohl kaum mehr einen Job finden wird. Dafür will er sich im Alten-Eisen-Hilfsverein mehr engagieren.

Zum Alten Eisen?

Der Verein trifft sich donnerstags im Gasthaus Dormann in Wien-Margareten. Mehr Infos: 0650 / 920 67 31.

Betriebe, bitte melden!

Wiener Betriebe, die Arbeitslose ab 50 einstellen, bekommen drei Monate die gesamten Lohn- und Lohnnebenkosten refundiert, sofern die neue Arbeitskraft zuvor zumindest ein halbes Jahr lang auf Jobsuche war. Je nach Alter läuft die Förderung bis zu einem Jahr lang. Infos: 01 / 878 71 bzw. www.ams.at/sfu

Sie haben später, im Exil, Karriere gemacht. Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel. Ihr Forschungsbericht über die Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit, zum ersten Mal 1933 veröffentlicht, wurde weltweit bekannt und hat die Sozialforschung nachhaltig beeinflusst. Alle drei wurden später Professoren in den USA bzw. in Großbritannien.

Späte Genugtuung für sie, und gleichzeitig ein Verlust für ihr Heimatland, dass ihre Ideen erst lange nach dem Ende der NS-Zeit in Österreich wertgeschätzt wurden.

Hartes Los: Langzeitarbeitslos
Marienthaler Arbeiter an der Feilbach-Brücke, 1931. © Waschsalon Karl-Marx-Hof, AGSÖ (Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Uni Graz)
Ihr Forschungsdesign in Marienthal war in jedem Fall innovativ: Schon bald nach Beginn der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 mietete sich das Forschertrio mit einigen Studenten und freiwilligen Mitarbeitern für mehrere Monate in Marienthal ein. In dem kleinen Dorf nur wenige Bahnminuten südlich von Wien (heute ein Ortsteil von Gramatneusiedl) war kurz zuvor die Seidenfabrik geschlossen worden, wodurch das Gros der Bewohner mit einem Schlag Arbeit und Einkommen verloren hat.

Mithilfe persönlicher Befragungen und Beobachtungen sowie Auswertungen von verfügbaren amtlichen Zahlen gelang es Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel, exakt zu beschreiben, wie sich Arbeitslosigkeit auf das Befinden der Bewohner und die Gesamtstimmung im Ort ausgewirkt hat. Hier einige harte Fakten:

Nichts oder nur trockenes Brot aßen laut Angaben des Schullehrers am Tag vor der Auszahlung des Arbeitslosengeldes 19 Kinder, nach der Auszahlung immerhin zwei.

Sechs Familien gaben an, dass sie nie Fleisch essen, 22 Familien ein Mal, acht Familien zwei Mal, zwei Familien drei Mal pro Woche.

Mit der Stoppuhr in der Hand, hinter einem Fenster versteckt, hielten die Sozialforscher fest, dass die Mehrheit der Marienthaler nur mit 3 km/h zu Fuß unterwegs war, was sie im Resümee von einer "müden Gemeinschaft" sprechen ließ.

Dank ihrer Zeiterfassungsbögen fanden sie ferner heraus, dass die hauptsächliche Beschäftigung der Marienthaler Männer das Nichtstun war (für den Vormittag gaben das 35 von 100 Männern an, für den Nachmittag sogar 41 von 100 Männern), gefolgt vom Kartenspiel beziehungsweise Zeittotschlagen im Arbeiterheim. Ihre Conclusio: "Das Nichtstun beherrscht den Tag." Ein Befund, der übrigens auch für die Jugendlichen galt, nicht aber für die Frauen. Die versuchten, den Haushalt so gut wie möglich in Ordnung zu halten und mit den wenig verfügbaren Lebensmittel zu kochen.

Dank der Aufzeichnung der örtlichen Bücherei konnte auch die kollektive Lethargie nachgewiesen werden: Wurden im Jahr 1929 noch 3,23 Bücher pro Entlehner verzeichnet, waren es 1930 nur mehr 2,3 und 1931 gar nur mehr 1,6.

Gleichzeitig kamen den örtlichen Organisationen die Mitglieder abhanden: bei der Sozialdemokratischen Partei 33 %, beim Deutschen Turnverein 52 % und beim Deutschen Gesangsverein gar 62 %.

Angst und Armut haben aber auch die Vernaderung genährt: So stieg die Anzahl der Anzeigen von Marienthalern gegen Marienthaler 1931 von 9 auf 28 an, davon waren laut Polizei immerhin 21 unberechtigt.

Bei ihren Hausbesuchen mussten die Sozialforscher notieren, dass nur 16 Familien ungebrochen wirkten. 48 waren resigniert, 11 verzweifelt und 25 apathisch.

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