Selbstdiagnosen im Netz: Tiktok, tick ich falsch?

Selbstdiagnosen im Netz: Tiktok, tick ich falsch?
Auf Social Media teilen Jugendliche Inhalte über psychische Erkrankungen. Das enttabuisiert, sorgt aber für Kritik.

Prokrastination, Stimmungsschwankungen, Tagträume. "Sieben Zeichen dafür, dass du vielleicht ADHS hast“, lautet der Titel eines Videos auf der Social-Media-App Tiktok. Über 700.000 Mal wurde es geliked; die Hashtags selfdiagnosis oder selfdiagnosed haben auf der Plattform zusammen über 50 Millionen Aufrufe.

Immer mehr Jugendliche behaupten dort, sich selbst diagnostiziert zu haben. Besonders häufig mit psychischen Erkrankungen wie ADHS, Depressionen oder Autismus.

Informierte Patientinnen und Patienten

Dass sich junge Menschen bereits vor einer professionellen Diagnose intensiv mit verschiedenen Krankheitsbildern auseinandergesetzt haben, erlebt auch Paul Plener, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH Wien. Besonders viele Selbstdiagnosen sieht er bei Autismus-Spektrum-Störungen.

Das habe damit zu tun, dass in den sozialen Medien heute viel dazu geteilt wird, sich aber auch die offiziellen Diagnosekriterien geändert haben. Statt klaren Kategorien gibt es inzwischen dimensionale Konstrukte, "wo sich viele Leute leichter wiederfinden“, erklärt er.

"Prinzipiell wünscht man sich informierte Patientinnen und Patienten“, sagt Plener. Problematisch werde es allerdings, wenn Meinungen durch das Selbststudium im Netz zu sehr gefestigt sind. Außerdem müsse man aufpassen, nicht in jeder Facette des Menschen eine psychische Erkrankung zu sehen. Denn auch wenn viele mit ihren Einschätzungen richtig liegen, sei es "eine Frage des Schweregrads und letzten Endes auch der tatsächlichen Einschränkungen im Alltag“.

Kritik im Netz

In den Kommentarspalten im Netz finden die Selbstdiagnosen jedenfalls nicht nur Anklang: "Hört auf, euch selbst zu diagnostizieren“ oder "Heute hat sowieso jeder Autismus“, schreiben die User dort etwa.

"Diese Kommentare halten einer empirischen Beobachtung nicht Stand“, widerspricht Plener. Psychiatrische Erkrankungen hätten seit dem Augenmerk in sozialen Netzwerken nicht zugenommen: "Wenn es einen massenhaften Effekt gäbe, müssten wir ihn schon lange gesehen haben. Das ist nicht der Fall.“

Stattdessen würden die Leute zum Nachdenken angeregt und das Thema enttabuisiert werden. Denn wir seien es noch immer nicht gewohnt, psychische Erkrankungen in einem angemessenen Ausmaß zu thematisieren. Und Jugendliche seien "natürlich Spezialisten darin, die erwachsene Gesellschaft herauszufordern und Tabuthemen vorzuzeigen“.

Wann und wie Hilfe im Netz sinnvoll ist

Dass sich junge Menschen bei gesundheitlichen  Fragen  zuerst an das Internet wenden, ist kein neues Phänomen. Immerhin wurde die Generation Z (zwischen 1995 und 2009 geboren) im Gegensatz zur Vorgängergeneration bereits im Kindesalter mit der digitalen Lebenswelt konfrontiert. Informationen zu psychischen Erkrankungen werden im Netz für sie leichter verständlich und niederschwellig aufbereitet; die digitale Community  stärkt zudem  das Zugehörigkeitsgefühl. 

Die Frage, ob die digitale Präsenz von mentaler Gesundheit gut oder schlecht ist, stelle sich daher längst nicht mehr, erklärt Kinder- und Jugendpsychologin Sabine Kainz. Vielmehr gehe es jetzt darum, "fachlich richtige Informationen den Eltern aber auch den Jugendlichen zur Verfügung zu stellen“ und ihre Symptomatik bei Verdacht professionell einzuschätzen.

Faktenbasiert

Denn nicht alles, was  auf Tiktok, Instagram und Co. verbreitet wird, ist faktenbasierte Information und sollte daher kritisch hinterfragt werden.  

Es liege nun an den Expertinnen und Experten, fachlich richtige Information ins Netz zu stellen und die digitale Lebenswelt möglichst sinnvoll zu nutzen, "damit wir Jugendliche dort mit ihren Schwierigkeiten gut abholen können“, so Kainz. Das deutsche Bundesministerium für Gesundheit nutzt die Reichweite von Tiktok  bereits seit einigen Monaten, um geprüfte Information zu mentaler Gesundheit und Alltagstipps an die Jungen zu bringen.

Auch Paul Plener sieht großes Potenzial in der digitalen Lebenswelt der Jugendlichen. Denn über das Smartphone  könne man sie viel eher erreichen. "Mittlerweile entwickelt sich viel im Bereich der digitalen Psychotherapie. Es gibt einige Online-Therapieverfahren, die schon gut evaluiert sind. Diese schnell verfügbare Hilfe hat durchaus Zukunftspotenzial“, ist er überzeugt.       

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