"Ist Kitzeln okay für dich?" Wie man Kinder vor Missbrauch schützt
Von den Hunderten Fällen, die Agota Lavoyer im Laufe der Jahre begleitet hat, beschert ihr einer immer noch Gänsehaut. Eine Jugendliche hatte ihrer Mutter anvertraut, dass sie seit Jahren von ihrem Großvater missbraucht wird. Die Mutter glaubte ihr, obwohl der Täter ihr eigener Vater war, mit dem sie engen Kontakt hatte. „Sie hat sofort alle Konsequenzen gezogen und den Kontakt abgebrochen“, erzählt Lavoyer. „Als die Tochter entschied, ihren Großvater anzuzeigen, hat sich die gesamte Großfamilie von ihr abgewendet. Doch die Mutter hielt zu dem Mädchen und tut es heute noch.“
Ein Verhalten, das leider nicht selbstverständlich ist, wie Lavoyer aus ihrer Arbeit mit betroffenen Familien weiß. Der Fall gehöre zu den wenigen, die so verlaufen. „Viel öfter erfährt das Kind keine Unterstützung, es wird ihm nicht geglaubt, die Familie hält zum Täter und verstößt das Opfer.“ Betroffene leiden dann nicht nur unter den Folgen des Übergriffs, sondern auch unter der Stigmatisierung in der Familie.
Gefahr im Umfeld
Um das zu ändern, braucht es mehr Aufklärung über sexualisierte Gewalt, sagt Lavoyer. Die 41-jährige Sozialarbeiterin ist in der Schweiz die bekannteste Expertin für sexualisierte Gewalt und hat soeben ihr erstes Buch veröffentlicht (siehe unten). „Ist das okay?“ soll Kinder, Eltern und andere Bezugspersonen für die Gefahren sexueller Übergriffe sensibilisieren und Fakten schaffen. Dazu zählt, dass die allermeisten Übergriffe im nahen Umfeld des Kindes passieren (wie auch der aktuelle Missbrauchsskandal in einem Wiener Kindergarten zeigt). Der Satz „Geh nicht mit einem Fremden mit“ ist zwar richtig, greift aber zu kurz. Was können Erwachsene tun, um ihre Kleinen möglichst wirksam zu schützen?
„Eltern müssen das Thema zu sich nehmen“, betont Lavoyer, selbst vierfache Mutter. „Sie müssen hinschauen, und zwar schon bei kleineren Grenzverletzungen: Ist dem Kind ein Kuss unangenehm, wird es in den Schoß genommen, obwohl es die Eltern unpassend finden? Sucht eine Lehrperson seine Nähe, obwohl das nicht zu ihrer Rolle gehört? Dann sollten Eltern intervenieren, die Grenzverletzung ansprechen und benennen.“
Gleiches gilt für die Familie: „Sagen Sie dem Onkel, dass das Kind keine Küsse möchte und er es unterlassen soll.“ Es gehe nicht darum, bei jeder Grenzverletzung eine sexuelle Absicht zu vermuten, sondern die Schwelle für Täter zu erhöhen.
Gewalt, die nicht wehtut
Je schneller Eltern reagieren, desto besser können Kinder das Erlebte verarbeiten. Mindestens genauso wichtig ist es, mit ihnen über das Thema zu sprechen, bevor es zu einer Grenzüberschreitung kommt. Das geht am besten unaufgeregt und in den Alltag eingebettet, sagt die Expertin. Im Buch führt sie Situationen an, die den Einstieg in das Gespräch erleichtern können (siehe unten).
Prävention. Sexualisierte Gewalt an Kindern beginnt schleichend und immer im Bereich der Grenzverletzungen. Erst mit der Zeit kommt es zu Übergriffen und massiver Gewalt. Aber wie lernen Kinder ihre Grenzen kennen? Am besten nebenbei im Alltag, sagt Agota Lavoyer. „Wenn sich das Kind umzieht, könnten Eltern fragen: ‚Du, wie wäre das, wenn ich dich nackt fotografieren würde? Darf ich das?‘ Und schon ist man mitten im Gespräch, kann das Kind aufklären und nach einigen Minuten wieder das Thema wechseln.“
Auch beim Kitzeln kann ein Gespräch entstehen. Etwa mit der Frage: „Findest du, beim Kitzeln sollte man aufhören, wenn jemand Nein sagt? Welche Regeln sollte es geben, damit es Spaß macht?“
Lavoyer: „Es ist möglich, dass ein Erwachsener ein Kind kitzelt und nicht merkt, dass er sich grenzverletzend verhält. Wird das Verhalten angesprochen, kann davon ausgegangen werden, dass der Erwachsene sein Verhalten reflektiert und in Zukunft anders agiert.“
Weil nicht jede Form von sexualisierter Gewalt wehtut, nehmen kleine Kinder sie oft nicht wahr. Ein Beispiel: Wenn ein Erwachsener mit dem Kind Pornos schaut, ist das sexualisierte Gewalt, aber für das Kind ohne Aufklärung nicht erkennbar.
„Ich möchte Eltern die Angst nehmen, dass Aufklärung ihre Kinder verängstigt, denn Wissen schützt“, sagt Lavoyer. „Kinder müssen über sexualisierte Gewalt aufgeklärt werden. Sonst haben sie keine Chance, die Gewalt zu erkennen.“
Kommentare