Gala der Menschlichkeit: Schachmatt der Spaltung

Gala der Menschlichkeit: Schachmatt der Spaltung
Kineke Mulder bringt seit sieben Jahren Menschen zusammen, die gerne spielen. Längst hätte sie eine Ehrung verdient.
Von Uwe Mauch

Viel Stille, viel Nachdenken, hoch konzentriertes Agieren – und sehr oft ein Lächeln an einer der wohl belebtesten Straßenkreuzungen Wiens.

„Jeder hat das Recht auf Erholung und Freizeit“, zitiert Kineke Mulder den Artikel 24 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurden.

Das ist deshalb bedeutsam, weil die aus den Niederlanden stammende Grafikerin diese Schach-Begegnungszone an 26 Freitagen im Jahr auf dem Platz der Menschenrechte am Beginn der Mariahilfer Straße in Wien-Neubau schafft.

480 Figuren am Tisch

Von ihrem Recht Gebrauch machen soeben der Anwalt aus dem Siebenten und ein Obdachlosen-Punk. Die süd-deutsche Touristin fordert den Talentesucher vom örtlichen Schachklub – und ein junger unbegleiteter Flüchtling aus dem Norden Afghanistans den pensionierten Journalisten.

15 Schachbretter liegen auf dem langen Tisch, auf dem alle dreißig Artikel der Menschenrechte aufgemalt wurden. 480 Schachfiguren werden von den dreißig im Moment aktiven Spielern bewegt, und von noch einmal so vielen Zuschauern beäugt.

Gala der Menschlichkeit: Schachmatt der Spaltung

„Das ist schön“, freut sich Kineke Mulder. Seit sieben Jahren schon organisiert sie Schach-Begegnungen im öffentlichen Raum. Sie rechnet, dass sie bis dato 250 solcher Events organisiert hat. Doch bei dieser Großzügigkeit ist ihr dringend zu misstrauen. Man darf davon ausgehen, dass es ein paar mehr waren.

Mit Ausnahme der regelmäßigen Veranstaltungen in der Hauptbücherei Wien wird ihr für ihren Einsatz in etwa so gedankt: Der grüne Bezirksvorsteher schaut kurz vorbei, klopft ihr auch heute Abend auf die Schulter, doch wenn es dann um eine kleine konkrete Hilfe geht, muss er schnell weiter. Und da reden wir noch nicht einmal von einem Mini-Honorar für diese Friedensstifterin.

Das Besondere daran: Kineke Mulder, die nicht in Saus und Braus lebt, beklagt sich nicht. Sie weiß längst, wie der Hase in Wien läuft. Sie freut sich lieber über die Freundschaften, die sie entstehen sah. Etwa jene: „Das Mädchen aus Döbling und der Bursch aus Favoriten, beide 16. Sie aus einem Gymnasium, er aus einer Mittelschule. Die hätten sich nie im Leben kennengelernt. Doch hier am Tisch haben sie am Ende ihre Telefonnummern ausgetauscht.“

Der einzigartige Zauber

Sehr schön sei es auch, wenn sich langjährige Nachbarn, die zuvor noch nie ein Wort gewechselt haben, durchs Spielen animieren lassen, es doch einmal miteinander zu probieren. Riesig freut Kineke Mulder auch, als sie die ältere demente Dame erblickt: „Sie kommt jeden Freitag. Inzwischen erkennt sie nicht nur einzelne Spieler. Sie kennt auch wieder alle Figuren auf dem karierten Brett.“

Den einzigartigen Zauber von Schach hat die seit ihrer Kindheit passionierte Spielerin im Spätsommer 2015 zum ersten Mal so richtig durchschaut. In diesem Sommer kamen am Wiener Hauptbahnhof mehr Menschen an als zuvor, viele nicht aus dem Urlaub, viele auf der Flucht.

Sie sei sich ihrer Sache nicht sicher gewesen, als sie damals gemeinsam mit einem Schachfreund und zwei Schachbrettern unterm Arm am Hauptbahnhof hervortrat: „Ich hatte Angst, dass ich die Ankommenden, denen allen nicht zum Lachen zumute war, mit meinem Spielangebot brüskieren könnte.“

Das Gegenteil sei der Fall gewesen, erinnert sich die Animatorin: „Kaum hatte ich die Bretter auf einem der Tische aufgeklappt und die Figuren aufgestellt, haben die Leute zu spielen begonnen.“

Wie sehr Schach positive Energien abseits von sozialen und sprachlichen Barrieren aktivieren kann, beschreibt folgende Beobachtung aus dem Sommer 2015: „Da saß ein Familienvater komplett in das Spiel vertieft, vielleicht das erste Mal seit Wochen oder Monaten ohne Sorgenfalten in seinem Gesicht, was auch auf seine Kinder beruhigend wirkte.“

Gala der Menschlichkeit: Schachmatt der Spaltung

Mittwochs bringt die Gründerin der Initiative Chess Unlimited im Café Baharat in der Gumpendorfer Straße Schachspielende an einen Tisch. KURIER-Leserinnen möchte sie gerne sagen: „Schaut doch bitte mal vorbei, denn dieses von mir so geliebte Spiel könnte weltweit mehr Frauen vertragen.“

Schach der Spaltung des Landes! Bei Kineke Mulders Events kann es vorkommen, dass ein Impfgegner einem Impfbefürworter ein Remis anbietet, Jüngere Älteren gegenübersitzen, ein Wähler der FPÖ eine Grüne zu einem Spiel einlädt und auch andere weltanschauliche Konflikte zumindest für einen Abend lang keine Rolle spielen.

Alle Termine auf einen Blick hier.

Wir nominieren: Bis zur „Gala der Menschlichkeit“  am 10. November porträtiert die Redaktion 16 Menschen, die sich unentwegt, uneigennützig und ohne großes Aufsehen zu erregen, in den Dienst der Gemeinschaft stellen.  Heute: Kineke Mulder, die seit sieben Jahren mit großer Leidenschaft interessierte Menschen zum gemeinsamen Schachspielen in der Öffentlichkeit bringt und damit viel Freude bereitet

Sie nominieren: Wenn Sie auch jemanden kennen, der eine Auszeichnung verdient hätte, dann reichen Sie bitte jetzt ein, und zwar hier.

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