Ende der Quarantäne: Warum Eigenverantwortung vielen schwerfällt
Im nunmehr zweijährigen Wechselspiel aus „Hammer und Tanz“, aus Verschärfung und Lockerung der Corona-Maßnahmen, löste kaum eine Änderung so emotionale Reaktionen aus wie das Ende der verpflichtenden Quarantäne für Infizierte. Als Johannes Rauch die neue Verordnung vergangene Woche in der ZiB2 verteidigte, brach ein Twitter-Shitstorm über den grünen Minister herein. Die Lockerung inmitten der Sommerwelle sei unverantwortlich, empörten sich Kritiker. Andere halten das Aus der Isolation angesichts Covid-Medikamenten, Personalmangel und hoher Durchimpfungsrate für überfällig.
Es ist vor allem das plötzliche Delegieren der Verantwortung in den Privatbereich, das vielen sauer aufstößt. Die klinische Psychologin Melanie Schweinzer von der MedUni Graz kann den Unmut auf beiden Seiten nachvollziehen. „In Krisen wird das Denken einfacher: Man sieht das, was einen selber betrifft“, führt sie aus. „Wenn man nun Familienmitglieder hat, die durch das Virus besonders gefährdet sind, löst das andere Reaktionen auf die Lockerungen aus. Und dieses Ungleichgewicht spüren wir gerade.“
Etwas bewirken können
Das Wort „Eigenverantwortung“ wurde in der Pandemie viel strapaziert, war aber wohl noch nie so entscheidend wie jetzt, wo das Quarantäne-Aus auf eine hoch ansteckende Subvariante trifft.
Doch was braucht es, um eigenverantwortlich zu agieren? In erster Linie die Sicherheit, dass das eigene Verhalten für die Gruppe spürbare Auswirkungen hat. Diese Selbstsicherheit sei zuletzt abhandengekommen, erklärt die Psychologin. Das liegt zum einem an einem bekannten Phänomen: Je mehr (anonyme) Menschen beteiligt sind, desto weniger fühlt sich der Einzelne verantwortlich. Und an der Pandemie ist eben das ganze Land beteiligt.
Zum anderen fehlt ein klarer Handlungsplan, kritisiert Schweinzer. „Zuletzt war die Berichterstattung eher polarisierend, es wurde vonseiten der Politik nicht klar genug kommuniziert.“
Das führt zu negativem Stress und Unsicherheit – vor allem am Arbeitsplatz. Sich nach einem positiven Testergebnis zu isolieren, galt seit jeher als Grundpfeiler der Pandemiebekämpfung. „Gerade hatten wir eine Routine bekommen, jetzt herrscht wieder Unsicherheit. Im Gesundheitsbereich etwa wird kommuniziert, dass man als Besucher infiziert nicht ins Krankenhaus darf, als Mitarbeiter schon.“
Blick von außen
Dazu kommt, dass Infizierte nun mit Maske am öffentlichen Leben teilhaben dürfen – eine Freiheit mit Konfliktpotenzial, sagt die Psychologin. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit Schutzmaske eher als infiziert oder chronisch krank wahrgenommen werden, ist ohne Maskenpflicht deutlich erhöht. Das erhöht das Risiko von Stigmatisierung und Polarisierung.“
Die unklare Kommunikation sei auch der wesentliche Unterschied zu den skandinavischen Ländern, wo die Quarantäne – wie in Spanien, Großbritannien, der Schweiz – bereits ohne größere Aufregung abgeschafft wurde.
Verkehrsbeschränkung
Infizierte ohne Symptome können die eigene Wohnung ab heute verlassen und auch arbeiten oder in die Disco gehen. Sie müssen dabei durchgehend eine FFP2-Maske tragen, außer im Freien bei einem Abstand von 2 Metern. Wer krank ist, soll weiterhin zu Hause bleiben
Freitesten
Die Verkehrsbeschränkung dauert zehn Tage. Nach fünf Tagen ist ein Freitesten mittels PCR-Test möglich
Vorbeugung
Die Auffrischungsimpfung wird vom Nationalen Impfgremium derzeit für Menschen ab
65 Jahren und Menschen mit Vorerkrankungen empfohlen. Auch der Einsatz von Covid-19-Medikamenten soll ausgeweitet werden
Können Österreicher keine Eigenverantwortung, wie der Vizepräsident der Ärztekammer sagte? Der in Bayern lebende Soziologe Loon van Joost, gebürtiger Niederländer, hat den Blick von außen: „Österreich ist im Vergleich zu anderen hierarchischer organisiert und stärker an Autorität orientiert“, skizziert er. „Das heißt aber nicht, dass Österreicher nicht eigenständig denken können. Unter nationalen Bevölkerungen gibt es eine Vielfalt, die viel größer ist als die Unterschiede zwischen den Nationalitäten.“
Psychologin Schweinzer ist optimistisch, dass sich das eigenverantwortliche Handeln einspielen wird. „Wir lernen nur in Situationen, die belasten. Bis zur Pandemie war uns nicht bewusst, dass wir für die Gesundheit anderer Verantwortung tragen.“
Und es gibt einen weiteren Vorteil, wie ein Twitter-Nutzer augenzwinkernd anmerkte: Zumindest die leidige Frage Karantäne oder Kwarantäne habe sich erübrigt. Vorerst.
Kommentare