Autismus: Die Welt mit anderen Augen sehen
Simon (Name geändert) saust auf die Kindergartenleiterin zu. Erwartungsvoll schiebt er die Ärmel ihrer grauen Wollweste nach oben, bis die Armbanduhr der Pädagogin zum Vorschein kommt. Konzentriert inspiziert er die moderne Smartwatch. Dann entfährt ihm ein begeistertes Quietschen
„Uhren sind seine Leidenschaft“, sagt Emilia beim Beobachten der Szene und schmunzelt. Die Studentin begleitet den Fünfjährigen seit zwei Jahren im Städtischen Kindergarten in der Lindengasse im 7. Wiener Gemeindebezirk. „Vor einer Weile war er vernarrt in Kuckucksuhren“, erinnert sich die 22-Jährige. Die Klappe der Traditionsuhr, die zur vollen Stunde auffliegt und den singenden Vogel freigibt, wurde mit Kastentüren wieder und wieder imitiert.
Uhrenliebhaber
Simon ist Autist. „Die Diagnose wurde kurz vor seinem dritten Geburtstag gestellt“, erzählt sein Vater. Weil Simon kaum sprach, brachten ihn seine Eltern zu einer Logopädin, die die Familie an ein Diagnosezentrum verwies. Autistische Kinder lernen häufig später zu sprechen. Manchmal verfügen sie auch über einen alterstypischen Wortschatz, haben aber Probleme, ihn anzuwenden.
Seine Liebe zu Uhren entdeckte Simon schon mit einem Jahr. „Bevor er noch ein richtiges Wort sagen konnte, hat er das Ticken der Uhr lautsprachlich imitiert“, schildert sein Vater, der mit seinem Sohn inzwischen einmal pro Woche das Uhrenmuseum besucht.
Spezialinteressen sind bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung keine Seltenheit. Herkömmlichem Spielzeug schenken autistische Kinder oft wenig Beachtung, umso interessanter sind dafür Einzelteile oder technische Geräte – ein Highlight ist die Kamera des KURIER-Fotografen bei unserem Besuch.
Als Fachassistentin der Österreichischen Autistenhilfe betreut Emilia Simon an zwei Tagen pro Woche. Beim Spielen, Basteln und anderen Aktivitäten geht sie aufmerksam auf die Bedürfnisse des Buben ein. „Zu Beginn war es mir wichtig, ihn nur zu beobachten und kennenzulernen. Was er mag und was Auslöser für schwierige Situationen sein können“, erzählt Emilia, die Soziale Arbeit und Sozialpädagogik studiert.
Mehr Interaktion
Körperliche Nähe kann bei Autisten Stressgefühle auslösen – nicht so bei Simon: Beim Lesen hockt der Fünfjährige ganz selbstverständlich auf Emilias Schoß, ein Zeichen dafür, dass er die Studentin ins Herz geschlossen hat.
Simon wird zweisprachig, auf Englisch und Deutsch, erzogen. Als Emilia ihn vor zwei Jahren kennenlernte, sprach er kaum. „Insbesondere im vergangenen Jahr hat er riesige Fortschritte gemacht“, erzählt sie. „Sowohl sprachlich – er sagt jetzt meinen Namen und benennt vieles in seiner Umgebung –, als auch bei der Interaktion – er stellt mehr Augenkontakt her, wirkt insgesamt lebhafter und quirliger.“ Früher sei er in sich gekehrter und stärker auf seine Spezialinteressen fokussiert gewesen. „Inzwischen ist er offener für Neues und geht auf die anderen Kinder zu.“
Mit seiner Kreativität sticht Simon heraus: „Er verwendet Gegenstände für Sachen, für die sie gar nicht vorgesehen sind und kreiert dadurch außergewöhnlichere Spiele, auf die andere Kinder so nie kommen würden.“
Kindergartenleiterin Michaela Pinter schätzt den Beitrag der Fachassistentin als „wertvolle und keineswegs selbstverständliche Unterstützung“. Inklusion im Kindergarten sei „eine Chance für die Sozialisation aller Kinder“. Besonders stolz ist Pinter auf ihr Team, das mit seiner Arbeit „die Basis dafür schafft, dass wir allen Kindern gerecht werden“.
Gemeinsamer Weg
Emilia wird Simon noch ein ganzes Jahr lang begleiten: „Das trifft sich gut, weil er dann mit dem Kindergarten fertig ist – und ich mit dem Studium.“ Die langfristige Betreuung war nicht nur Simons Eltern, sondern auch ihr selbst ein Anliegen. Stabilität und Routinen sind für alle Kinder, vor allem aber für Autisten, wichtig. Für Simon wünscht sich Emilia, „dass er in seinem Leben an Leute gerät, die seine Besonderheiten erkennen und zu schätzen wissen und ihn auf seinem Weg unterstützen“.
Autismus
Bei der Autismus-Spektrum-Störung handelt es sich um eine Entwicklungsstörung, die sich darauf auswirkt, wie sich eine Person verhält, ausdrückt, mit anderen in Beziehung tritt und die Umwelt wahrnimmt.
Kommunikation
Die Sprachfähigkeit kann unterschiedlich ausgeprägt sein: Manche kommunizieren mithilfe von Bildern und Gebärden, andere verfügen über ein Sprachtalent. Autisten können nonverbale Signale nicht so gut deuten, was soziale Situationen schwieriger gestalten kann.
48 000 Kinder
haben in Österreich eine Autismus-Diagnose.
Verhalten
Stereotype Verhaltensweisen (bestimmte Handlungen werden wiederholt) und Spezialinteressen sind typisch für Autisten, die auch bestimmte Reize (Geräusche, Geschmäcker, Haptik, etc.) intensiver wahrnehmen.
Anlaufstelle
Die Österreichische Autistenhilfe steht Autisten und ihren Familien in den Bereichen Beratung, Therapie und Diagnose zur Seite.
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