Verantwortlich soll die Art der Lesekompetenzvermittlung sein: Statt ganze Wörter im Kontext zu verstehen, liegt der Fokus in Island auf einzelnen Buchstaben und deren Laute.
Texte erleben
"Kompetenzunterschiede gibt es überall auf der Welt, teilweise auch in Ländern, die nah beieinanderliegen", weiß Ehmig. Spezifische Leselernmethoden sieht sie nur als "ein Rädchen im Getriebe". Weitaus einflussreicher sei etwa das jeweilige Bildungssystem, "aber auch, wie Betreuung und frühe Förderung vor und um die Schule herum organisiert ist". So nehmen etwa Kindergärten ihre Rolle als vorschulische Bildungsinstitution sehr unterschiedlich wahr.
Dass Kinder in Island schon vor Schulbeginn lesen können, könne nicht als Ideal auf andere Länder übertragen werden, betont Ehmig. "Die Schule ist dazu da, Lesekompetenz im eigentlichen Sinne zu vermitteln, das müssen Kinder nicht schon dorthin mitbringen, womit Familien auch deutlich überfordert wären."
Bewusstsein für die Präsenz von Text
Bevor es ans echte Lesenlernen geht, gelte es Kindern Kompetenzen zu vermitteln, "die sie gut auf das Lesenlernen in der Schule vorbereiten und es ihnen später leichter machen, selbst zu lesen". Hier spielen die engsten Bezugspersonen eine wichtige Rolle. "Kinder sollten ein Bewusstsein für die Präsenz von Schrift und Text überall in ihrem Lebensraum entwickeln", sagt Ehmig. Das bedeutet: Als Elternteil ist man gefragt, die Neugier für Buchstaben, Texte und Sprache zu wecken. Es gilt, spielerisch zu vermitteln, dass man mit Lesen den Code hinter den Buchstaben knacken kann.
Häufiges Vorlesen ist der Schlüssel: "Vorlesen bedeutet, dass Kinder die Vielfalt von Geschichten und Figuren entdecken, lernen, wie diese empfinden und warum sie wie handeln." Das fördere nicht nur den Wortschatz und das Wissen von Kindern über die Welt, sondern auch das Mitgefühl beim Nachwuchs. "Aus Studien wissen wir, dass Kinder, denen viel vorgelesen wird, empathischer sind als Kinder ohne Vorleseerfahrung. Sie lernen früh, sich in Figuren und Situationen hinein zu versetzen."
Dabei ist Vorlesen keine Einbahnstraße, sondern ein Austausch zwischen Eltern und Kindern, bei dem auch Alltagserfahrungen, Ängste, bevorstehende Ereignisse und vieles andere zur Sprache kommen kann. Damit fördert das Vorlesen auch die Beziehung und Bindung innerhalb der Familie.
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Immer wieder wird der negative Einfluss von digitalen Medien aufs Lesen diskutiert. Halten Bildschirme Kinder vom Schmökern in Büchern ab? "Nein", sagt Ehmig, "das kann man so pauschal definitiv nicht sagen". Auch im digitalen Raum können Kinder Text und Schrift entdecken. "Die digitale Welt ist eine Realität, in die Kinder hineinwachsen. Das kann und darf man in der Leseförderung nicht ignorieren."
Zu den Fakten: Studien zeigen, dass Kinder, die sehr viel Zeit mit digitalen Medien verbringen, eine geringere Lesekompetenz haben. "Ein Argument, das häufig ein Schwarz-Weiß-Denken befördert, digitale Medien zu verteufeln", weiß Ehmig. Allerdings lesen Kinder heute genauso regelmäßig in gedruckten Büchern wie noch vor 30 Jahren, auch das zeigen Untersuchungen. Das Buch spielt in der Freizeit eines stabilen Anteils von Kindern eine Rolle.
Andersherum haben Kinder, die gut lesen können, auch gute Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien, vor allem darin, relevante Information zu finden, zu verstehen und einzuordnen. Gerade diese Kompetenzen brauchen Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Alltag ständig und dafür ist es wichtig, dass Kinder früh lernen, sich in unterschiedlichen Leseumgebungen eigenständig zu bewegen. "Dann wachsen sie zu kompetenten Leserinnen und Lesern heran."
Lesende Vorbilder im Leben
Nochmals zurück zur norwegischen Studie. Wie lassen sich die Geschlechterunterschiede erklären? "Das hat viel mit lesenden Rollenvorbildern zu tun – und die sind vielfach häufiger weiblich als männlich", sagt Ehmig. Mütter lesen in Deutschland häufiger vor als Väter. Auch im Kindergarten, in der Volksschule, in der Bibliothek und in den Buchhandlungen: Überall dort, wo Kinder mit Büchern in Kontakt kommen, treffen sie häufiger auf Frauen als auf Männer.
Eines ist Expertin Ehmig wichtig: "Wir sollten nicht zwischen richtigem und falschem Lesen unterscheiden." Oft werde der Lesebegriff auf das gedruckte Buch, Literatur und Kultur reduziert. "Dieses Denkmuster schließt viele Menschen aus, die auch als Erwachsene nicht gut lesen und schreiben können."
Um sie zu motivieren, ihre Kompetenzen zu verbessern, sei es keine Perspektive, schöne Bücher zu lesen. Vielmehr müsse es darum gehen, "Menschen durchs Lesen zu befähigen, ihren Alltag zu bewältigen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben".
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